Blutflucht - Evolution
wollte, bevor Dr. Harcourt mich umbrachte, war Jack, der Mann, mit dem ich gerne alt geworden wäre.
Mein Tiger …
Vorhin, da hatte er mir gesagt, dass er mich liebte.
Neue Tränen stiegen mir in die Augen. Ich hatte ja gewusst, dass er mich liebte, auch wenn er das nie laut ausgesprochen oder mir durch Gedanken mitgeteilt hatte.
Ich liebe dich so sehr, Jack
, schickte ich, in der Hoffnung, die Worte würden seinen Geist erreichen.
Als mich jemand an der Schulter berührte, drehte ich den Kopf und atmete auf. Es war nicht der Arzt. Es war Schwester May, die mir einen Speicherstick in die Hand drückte. »Hier, nehmen Sie das. Alle Informationen, die Sie wollten, sind darauf gespeichert. Das Passwort war schon veraltet, aber ich kam über den ehemaligen Zugang Ihres Vaters an die Daten.«
Ich begriff nicht, was geschehen war. Schwester May hatte es sich anders überlegt? Würde wenigstens ein Teil unseres Planes funktionieren?
Doch ich wollte keinesfalls denselben Fehler begehen wie meine Eltern und mit den Daten das Institut verlassen. Wie weit würde ich kommen? Vermutlich nicht einmal aus diesem Gebäude.
»Ich muss die Informationen sofort an MALVE übermitteln«, erklärte ich ihr. »Haben Sie ein MP?«
Sie zögerte kurz, dann zog sie das Gerät aus ihrer Tasche und gab es mir. Nachdem ich den kleinen Stick in die dafür vorgesehene Öffnung gesteckt hatte, wählte ich die Nummer, die Jack und ich uns gut eingeprägt hatten: MALVEOPERATIONGIERIGERGEIER, 625836737284664437443743437. Auf dem Display leuchtete BITTE GEBEN SIE DAS PASSWORT EIN auf. Mit zitternden Händen tippte ich CHAMÄLEON ein. Sofort begann die Übertragung und Entschlüsselung der Daten.
»Ich bin schon so gut wie tot«, drang Schwester Mays Stimme neben mir an mein Ohr.
Nachdem der Transfer abgeschlossen war, gab ich ihr das MP zurück. »Vielen Dank. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
Hatte es wirklich geklappt? Waren auf dem Stick alle Daten gewesen, die MALVE brauchte?
Ich konnte kaum fassen, dass es so einfach gewesen war.
Einfach? Nein – Jack hatte einen hohen Preis dafür gezahlt.
»Sie hatten keine andere Wahl«, sagte ich zu ihr. »Ich habe Sie mit meinen Kräften dazu gezwungen oder ich hätte Sie umgebracht.«
»Er wird mich töten«, wisperte sie.
Kopfschüttelnd erwiderte ich: »Sie werden bei MALVE Asyl finden.«
Schwester May packte meinen Arm. »Kommen Sie, ich bringe Sie hier raus. Wir haben noch genug Zeit. Dr. Harcourt kommt nie vor einer Stunde aus der Kantine.«
Gemeinsam verließen wir den Raum, doch ich würde nicht ohne meinen Tiger gehen.
»Jack … Ich muss zu ihm!«
Schwester May öffnete mir die Tür zu seinem Zimmer. »Ich halte auf dem Gang Wache, damit Sie sich von ihm verabschieden können«, sagte sie leise. »Er wird wohl nicht mehr aus dem Koma erwachen. Seine Lebenszeichen sind sehr schwach.«
Bei diesen Worten schluckte ich den dicken Kloß in meinem Hals hinunter.
»Ich hole Sie raus, falls jemand kommt.«
Schon während ich den Raum betrat wusste ich, dass die Schwester recht hatte. Jack war kaum mehr am Leben. Sein halbnackter, geschundener Körper lag leblos auf den blutrot gefärbten Laken, seine Brust hob sich kaum merklich, die sonst so starke und strahlende Aura um seinen Körper war verblasst und selbst für mich kaum wahrnehmbar.
Das also war der Preis, den wir bezahlen mussten; den
Jack
bezahlt hatte? MALVE hatte nun alle Informationen, aber ich konnte ihren Sieg nicht feiern. Hier, vor mir, lag der Mann, den ich über alles liebte, im Sterben. Er hatte nicht einmal erfahren, dass er Vater wurde.
Weinend küsste ich seine leblosen, blutigen Lippen und hoffte auf dieses wunderbare Strahlen in meinem Kopf, das seine Küsse immer bei mir auslösten – doch da war nichts.
Das unsagbare Trauergefühl brachte mich selbst beinahe um. Ich legte mich neben Jack auf die blutige Liege, meinen Kopf auf seine zerschnittene Brust, und hörte sein Herz kaum schlagen.
Ich schloss die Augen. Wie gelähmt und zu keinen anderen Gedanken fähig, wünschte ich mir sehnlichst mit ihm gemeinsam zu sterben, denn was hatte das Leben jetzt noch für einen Sinn? Ich wollte nicht mehr gegen die AMF kämpfen, dachte nur für den Bruchteil einer Sekunde an Onkel Sam. Nichts, was mir einmal wichtig gewesen war, berührte mich mehr. Ich fühlte mich wie in einem Albtraum gefangen, aus dem es kein Erwachen gab. Alles schien so unrealistisch, bis auf den unvorstellbar großen Schmerz in
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