Blutfrost: Thriller (German Edition)
packte seine rechte Hand und zerrte sie vor sein Gesicht. Einen Moment lang starrten wir beide auf den Stumpf, der von seinem kleinen Finger noch übrig war, dann entriss er seine Hand aus meiner Umklammerung.
Ich drehte mich um und ging. Mein Ruf in dieser Stadt war ohnehin schon ramponiert. Man bezeichnete mich als hysterisch, melancholisch, unberechenbar, unverschämt, verschlossen, und es war nicht wenig darüber getuschelt worden, was wirklich im letzten Oktober in Freiburg geschehen war. Wie es möglich war, dass ein deutscher Kollege mich mit einer Waffe durch einen dunklen Wald getrieben hatte, nachdem er mich zuvor mit einem Skalpell bedroht und verletzt hatte. »Wie ist so etwas denn nur möglich?«, hatte der leitende Rechtsmediziner gefragt und mich dabei auf ziemlich eindeutige Weise von Kopf bis Fuß gemustert. Mit anderen Worten: Ich war durchaus dazu in der Lage, mir mein eigenes Leben zur Hölle zu machen, und brauchte niemanden, der mich so weit brachte, den Verstand zu verlieren. Daniel war einer der wenigen Menschen, denen es durch ihre bloße Existenz gelang, die Schrauben in meinem Hirn zu lockern. Das durfte nicht noch einmal passieren. Dann wäre ich am Ende.
4
Als ich wieder in meinem Büro war, kochte ich innerlich. Die Gedanken überfielen mich förmlich, sie beschossen mich von allen Seiten. Die blinde, tiefrote Wut, die ich für Daniel empfand, mischte sich mit der verwirrenden Begierde, die ich im Gespräch mit dem Mann im Rollstuhl gespürt hatte. Und das bei mir, die ich sonst wie eine Schlafwandlerin durch das Leben lief, mich nur auf meine Arbeit konzentrierte und alle anderen Gefühle am liebsten im Alkohol ertränkte. Ich saß da und drehte die Visitenkarte des Rollstuhlmannes mit kribbelnden Fingern hin und her, als Schweinebacke auftauchte und mir in der offenen Tür herumtänzelnd von einem sehr »lehrreichen Buch« zu erzählen begann, das er gerade las. Dr. Banner war neben mir der zweite stellvertretende Leiter am Institut, aber ich war seinen Spitznamen Schweinebacke so gewöhnt, dass ich mich sehr zusammenreißen musste, um seinen richtigen Namen nicht glatt zu vergessen. Schweinebacke hieß er übrigens, weil er als Ballistikexperte gerne auf betäubte Schweine schoss, um den Einfluss der Projektile auf das Gewebe zu studieren. Schließlich klingelte mein Telefon und Schweinebacke zog ab. Eine Frau von einer Filmgesellschaft wollte möglichst sofort wissen, wie eine Wirbelsäule aussah, wenn sie fünf Jahre lang unter der Erde gelegen hatte.
»Einen kleinen Moment, bitte«, sagte ich und stellte sie zu Schweinebacke durch, der im Nachbarzimmer saß. Mein Zustand plötzlicher Emotionalität hatte sich jedoch verflüchtigt, und ich wusste, dass mir von nun ab nur noch kalte Fakten weiterhalfen.
Ich wählte Großvaters Nummer und starrte auf die Fortbildungs- und Evaluierungspläne für die neue Spezialausbildungjüngerer Ärzte, um die ich mich schon lange hätte kümmern müssen und die ich nun wirklich angehen sollte. Irgendwann ging er endlich ans Telefon.
»Wusstest du«, begann ich, ohne mich zu melden, »dass Daniel jetzt in Odense lebt und arbeitet? Warum hast du mir das nicht gesagt?«
Er blieb lange still, und ich hörte nur den rasselnden Atem. Seine Raucherlunge war von Rødekro bis nach Odense zu hören.
»Ich habe seit 2008 oder 2009 nicht mehr mit Daniel gesprochen«, sagte er schließlich und blieb dann wieder eine ganze Weile stumm. »Als er mich das letzte Mal angerufen hat, dachte er darüber nach, wieder nach Hause zurückzukommen …«
»Nach Hause? Und wo war er da?«
»Irgendwo in den USA. Er hat damals von einer Stellung im Rigshospital gesprochen. Und dass seine Frau gerne wieder nach Dänemark zurück will. Sie haben ein kleines Mädchen bekommen.« Er seufzte hörbar.
»Du hast seit 2008 nichts mehr von ihm gehört?«, wiederholte ich langsam. »Warum nicht?«, fuhr ich fort, als Großvater schwieg. »Warum hast du nichts mehr von ihm gehört?«
»Weil er nur anruft, wenn er etwas braucht oder wissen will.«
»Und warum hat er dann beim letzten Mal angerufen? Was wollte er da?«
»Er wollte von mir wissen, ob du noch bei der Rechtsmedizin in Kopenhagen bist.«
»Das hätte er doch im Internet checken können, warum um alles in der Welt hat er dich so was gefragt?«
»Das weiß ich wirklich nicht, Maria.«
»Weißt du eigentlich, dass er seinen Namen geändert hat?«
»Nee, wie heißt er jetzt?«
»Er nennt sich Daniel T. Sommer.
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