Blutfrost: Thriller (German Edition)
untersten Schublade und ein paar Plastikteilen kämpfte, die nicht richtig passen wollten. Irgendwann stand schließlich eine Kommode an einer Wand, die vorher leer gewesen war. Jetzt war es also die Kommodenwand. Konnte man da noch irgendwas hinzufügen? Ein Bild vielleicht? Ein bisschen tote Natur in Farbe? Für die Seele?
»Gut«, sagte Nkem. Ihre Stirn glänzte.
»Ja.« Ich lächelte und versuchte, dankbar auszusehen, auch wenn ich wusste, dass das nicht nett von mir war, sondern herablassend.Die Kluft, die sich zwischen uns aufgetan hatte, war nicht leicht zu überbrücken.
Sie stand auf, streckte sich und seufzte. Dann nickte sie in Richtung der vier Stuhl-Kartons. Als würden die zwei, die ich schon hatte, nicht vollends reichen: Einer für sie und einer für mich. Mehr brauchte ich nicht.
»Müssen die auch noch zusammengebaut werden?«
»Nee, die sind vormontiert.«
Ich schlitzte die Kartons auf und dachte an Menschenkörper, die geöffnet wurden, einer nach dem anderen. Wir arbeiteten schweigend – fast wie in einer Kirche. Aber was wusste ich schon von menschlicher Gemeinschaft? Schließlich hatte ich sechs Stühle am Tisch stehen, obwohl ich nur zwei brauchte. Und was sollte ich jetzt damit?
»Das hätten wir.«
So etwas sagte sie sonst nicht. Eigentlich war das gerade der Unterschied zwischen ihr und den anderen Menschen – sie sagte nie etwas Dummes.
»Ja«, erwiderte ich auch nicht klüger und wartete gespannt. »Und jetzt?«
»Eines nach dem anderen. Wir sind ja schon weit gekommen.«
Ich nickte. Niemals zuvor hatten wir ein derart unerträgliches Gespräch geführt. Eines nach dem anderen , verflucht, es gab wirklich Grenzen, was ich in meinem Leben ertragen konnte, und eine Kommode und vier Stühle waren schon ziemlich viel. Schließlich hatte ich ja auch noch ein Bett, ein Sofa und einen Couchtisch. Und einen Esstisch. Und zwei volle, noch nicht ausgepackte Koffer. Plus einen, der aufgeklappt auf meinem Schlafzimmerboden lag. Ich wohnte hier seit über einem Jahr, aber oft war man ja einfach nur müde.
Nkem ging in die Küche, um eine Suppe zu kochen. Danndrehte sie sich um und sagte mit besorgter Miene: »Du bist heute wirklich nicht du selbst.« Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass sie das ganz sicher auch nicht war, erwiderte aber stattdessen: »Ich bin also gut, wenn ich ich selbst bin? Dann gibt es ja Licht am Ende des Tunnels.«
Nach meinem Erlebnis in Freiburg im letzten Oktober hatte ich zunehmend Schwierigkeiten, die Gemeinsamkeiten von Nkem und mir zu sehen. Manchmal war da vielleicht so etwas wie Humor und ein wortloses Verständnis, das ich mir selbst nicht erklären konnte. Ansonsten spürte ich nur das, was ich mit allen Menschen gemeinsam hatte: nichts.
Gegen sieben Uhr am gleichen Abend – Nkem war schon lange gegangen – sah ich aus dem Fenster und genoss den Regen, der an der Scheibe herunterlief. Er ließ meine Aussicht zu einem alten Schwarz-Weiß-Film werden und brachte mich in Gedanken zu dem Rollstuhlmann und seinem VHS-Band.
Ein dunkler Volvo hielt mit laufendem Motor vor Nkems Tür. Dicker Qualm kam aus dem Auspuff. Plötzlich ging die Tür auf und ein Schirm entfaltete sich und stieg langsam zum Himmel, bevor ein groß gewachsener Mann aus dem Auto kletterte und sich aufrichtete. Verdeckt von seinem Schirm ging er auf Nkems Haustür zu, verschwand einen Moment aus meinem Blickfeld und kam dann mit Nkem an seiner Seite wieder zum Vorschein. Er hatte seinen Arm um sie gelegt. Bestimmt fragte er sie jetzt, ob sie einen guten Tag gehabt hatte, bevor sie ihm die gleiche Frage stellte. Und danach redeten sie vermutlich über das schreckliche Wetter, sodass Nkem die Möglichkeit bekam, über ihre Sehnsucht nach Nigeria zu sprechen, wenn Dänemark kalt, dunkel und nass war. Er öffnete ihr die Tür und sorgte mit dem Schirm dafür, dass nicht ein Regentropfen auf sie fiel. Dann schloss er vorsichtig die Tür.
Wenn sie erst im Auto saßen und sich entspannten, fielen zwischen ihnen sicher Worte, die ich nicht erahnen konnte, die ich niemals hören würde und die sie nur noch weiter von mir entfernen würde. Das Auto fuhr langsam aus meinem Blickfeld. Ich drehte mich um, ging in die Küche und öffnete eine Flasche Wein. Am liebsten hätte ich geheult, aber das war auch wieder eine dieser Sachen, die ich nicht konnte.
Der Kater rieb sich an meinem Bein. Ich sah zu seinem Fressnapf, aber der war noch halbvoll. Vielleicht fühlte er sich nur einsam. Ich nahm
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