Blutfrost: Thriller (German Edition)
dieser kleine Mensch glücklich sein?
In seinen Träumen konnte auch der Rollstuhlmann laufen – und lieben. Wenn er aufwachte und entdeckte, dass er in einem toten Körper eingesperrt war, weinte er. In meinen Träumen erlöste ich ihn, brachte ich ihn dazu, wieder zu funktionieren, machte Liebe mit ihm, und gemeinsam verschwanden wir aus dieser Welt.
Ich streichelte über seine Wange. Er hatte sich frisch rasiert, seine Haut war ganz weich. Dann stand ich auf und vergrub meine Nase in seiner Halsbeuge. Er duftete wunderbar. Ich musterte sein Gesicht, erst von weitem und dann ganz aus der Nähe; es war so fein gemeißelt. Dann fuhr ich mit meinen Fingerspitzen über seinen Kopf, streichelte die Ohren, die Schläfen,die Wangen und küsste ihn langsam, wobei ich mir vorstellte, ihn in ein Glas zu gießen und mit Haut und Haaren zu trinken. Ich verlor mich in seinem großen, weichen Mund, und das zitternde Gefühl wollte nicht nachlassen. Beinahe hatte ich das Gefühl, dass er mich durch seinen Mund mit frischem Blut versorgte. Er war meine Konserve, mein Nachschub, meine Quelle. Er saugte die Zärtlichkeit aus mir und gab sie mir in anderer, magischer Form zurück, und ich dachte an das kleine, verätzte Mädchen. Wie Muttermilch floss die Zärtlichkeit in mich hinein.
Und dann erzählte ich ihm alles, in der Hoffnung, dass er es verstehen, es billigen würde – dass dann alles in Ordnung wäre. Schon vor einiger Zeit hatte ich ihm von meiner Tochter erzählt, aber erst vor kurzem, dass ich mir sie nur einbildete. Ich erzählte ihm, dass ich gerade eine Falafel gegessen hatte, und ich erzählte ihm von dem Mädchen hinter dem Tresen, das das Brot aufgewärmt und die Kichererbsenkugeln frittiert hatte und das mich zur Mutter haben könnte, wenn sie nur wollte. Vielleicht konnte ich sie dazu bringen zu denken: Wenn du nur meine Mutter wärst. Vielleicht könnte ich ja mal vorbeikommen? Mit meiner leiblichen Mutter komme ich nicht so gut zurecht, ich hätte lieber dich. Du bist die Mutter, von der ich immer geträumt habe . Ich erzählte ihm, wie sehr ich mich schämte, und er legte mir den Arm um den Rücken, während ich meine Wange an seinen Hals schmiegte. Und dann sagte er, dass wir alle unsere Träume hätten. Nur eben ganz unterschiedliche. Wir alle träumten von Dingen, die sich nie erfüllen würden. In diesem Moment, während sich seine Wange an die meine schmiegte und meine Geheimnisse vor ihm ausgebreitet lagen wie Organe auf einem Sektionstisch, meldete sich langsam schleichend die Wirklichkeit: Er würde mir niemals mit seiner warmen Hand über meine Wange streicheln, würde niemals seine Fingerum meine Brust legen oder über meinen Po gleiten lassen. Dennoch griff ich nach seiner Hand, nach den toten Fingern und ballte eine Faust. Ich konnte es einfach nicht lassen. Mit Gewalt versuchte ich, meine Finger mit den seinen zu verkreuzen, rang vergeblich damit, meinen Zeigefinger zwischen seinen Mittel- und Zeigefinger zu schieben. Ich küsste ihn wieder und löste mich auf. Alle Gedanken verschwanden, die Tür zu meinem Herzen wurde zugeknallt und der Schlüssel umgedreht. Plötzlich gab es nur noch Platz für dieses eine Gefühl, dieses brennende Bedürfnis.
Er rief nach seinem Helfer und verschwand mit ihm im Schlafzimmer. Ich versuchte, mich nicht zu fragen, was sie jetzt da drin machten, denn ich wollte seine Geliebte sein, für immer. Seine einzige Geliebte. Trotzdem sah ich die ganze Zeit diffuse Bilder ihrer beiden Körper vor mir – und trotzdem blieb ich.
Dann lag er da, mitten im Doppelbett, auf einer besonders weichen Schonmatratze, in einem weißen T-Shirt, die untere Körperhälfte durch die Steppdecke verborgen. Als er mich in der Tür stehen sah, drehte er, so gut er konnte, den Kopf und warf mir einen fragenden Blick zu: Ist das zu verrückt?
Bestimmt, aber bin ich selbst nicht auch viel zu verrückt?
Wenn man einmal extrem starke Schmerzen empfunden hat, war man hinterher nicht mehr derselbe wie vorher. Die Wirbelsäule, das Herz, das Gemüt eines Kindes. Die Nervenbahnen waren tot; die Sehnsucht amputiert, Impulse und Gelüste funktionierten vielleicht nur noch in den roten Lampen unseres Gehirns, die nicht aufhören wollten zu blinken. Wie Erinnerungen, deren Nähe wir beinahe schon körperlich wahrnehmen. Genauso physisch fühlten sich bisweilen unsere Sehnsüchte, unsere brennendsten Wünsche an.
Es war warm im Schlafzimmer. Vorsichtig schloss ich die Tür hinter mir. Und blieb
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