Blutfrost: Thriller (German Edition)
oft von Mutter auf Tochter vererbte. Wie standen seine Aktien dann? Durch ein paar ernste Münchhausen-Fälle, mit denen ich bereits zu tun gehabt hatte, wusste ich, dass die Väter oft eine Symbiose mit ihren gestörten Frauen eingingen. Aber vielleicht war es hier ja auch der Mann, der gestört war, seine Frau unterdrückte und zur »Mitarbeit« nötigte?
Schon so oft war ich an Daniels großem, viereckigen Haus vorbeigelaufen und hatte jedes Mal darauf gehofft, irgendwelche Informationen aufsaugen zu können, eine Erklärung für das Geschehene. Alles aber, was ich sah, war ein sauberes, ordentliches Haus, das sich in das Bild der anderen Häuser im Hunderupvej perfekt einreihte: gepflegte Gärten, große Autos in den Carports, weißer Kies, Platten, Beete, Ordnung. In diesigen Nächten wie dieser waren nur die Umrisse der Häuser und die Silhouetten ihrer Bewohner in den hell erleuchteten Räumen zu erkennen. Weder Mond noch Sterne waren am Himmel zu sehen. Herr und Frau Sommer saßen an diesem Abend vor dem Fernseher. Ich sah deutlich das flackernde, blaue Licht, das aus der rechten Ecke des großen Wohnzimmers kam, ohne dass mich dieses Bild klüger machte. Aber die zwei Menschen, die sich in dieser Dunkelheit versteckten, die nur von den Lichtschwertern des Fernsehers zerteilt wurde, waren nicht normal, mindestens einer von ihnen, vielleicht sogar beide, hatten ihr Kind gequält. Das kleine Mädchen, das jetzt irgendwo im Haus schlief, hatte unglaubliche Schmerzen ertragen müssen, und vermutlich stand ihr noch einiges bevor. Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, wohnte sie wieder bei ihren Eltern, während sich die Behörden darüber Gedanken machten, ob die überhaupt dazu geeignet waren, Josefine weiter bei sich zu haben. Die Gemeindepsychologen waren vorerst zu dem Schluss gekommen, dass Daniel und seine Frau normal genug waren, um ihr Kind weiterhin bei sich zu haben, und sie zementierten damit das Vorurteil, dass alle städtischen Angestellten debil waren. Ich erinnerte mich, dass in der Akte von mehreren psychologischen Gutachten die Rede gewesen war. Eva Sommer sei vollkommen normal, hieß es in der Beurteilung. Leider wurden die meisten Münchhausen-Frauen als »normal« eingestuft – wenn Eva denn einMünchhausen-Fall war. Es war für die Psychologen sicher schwer, diese Frauen einzustufen, und der Ansatz der englischen Psychologin Patricia Polledri, die einmal gesagt hatte, Münchhausen-Frauen seien tief in ihrem Inneren psychotisch, war nicht von der Hand zu weisen.
In dem psychologischen Gutachten über Daniel waren ein paar Besonderheiten aufgelistet worden:
Der Proband scheint an einer gemischten Persönlichkeitsstörung zu leiden, er erscheint in Belastungssituationen als emotional instabil mit einer Tendenz zu depressiven Symptomen, aber auch gewisse narzisstische und dissoziative Züge sind denkbar.
Irgendeine psychische Störung schien er also zu haben, und für mich war es beinahe eine Erlösung, diese Expertenworte zu lesen, die mir recht gaben. Des Weiteren war es wohltuend, dass Daniel als rechtlich zurechnungsfähig eingestuft wurde. Irgendwie musste ich versuchen, etwas Brauchbares aus meinen Beobachtungen abzuleiten. Ich blieb stehen, starrte in das flackernde, blaue Fernsehlicht und fragte mich, ob ich ihn anrufen und – ohne verbittert zu klingen, was natürlich unmöglich war – fragen sollte, was eigentlich geschehen war, und warum, warum, warum . Ich könnte ihn ja mit hinter dem Rücken gekreuzten Fingern fragen, ob wir nicht einfach einen dicken Strich unter unsere Kindheit ziehen sollten, und ihn dann ganz beiläufig bitten, mir von seiner Wirklichkeit zu erzählen. Wie würde er reagieren? Würde er mir die Tür vor der Nase zuknallen, mich totschlagen oder fesseln und mit Rohrreiniger übergießen? Ich drehte um und ging zurück in Richtung Stadt.
»Das Restaurant« – wie der alte, haarige Libanese seine Dönerbude nicht ohne Stolz bezeichnete – erstrahlte wie immer in grell-grünlichem Neonlicht, das flackernd die Konturen der anwesenden Gesichter schluckte. Der stolze Besitzer war heuteAbend allerdings gar nicht da. Heute bediente die neunzehnjährige Sarah mit ihrer wunderbaren Haremsnase, den rabenschwarzen Haaren und dem breiten Odense-Akzent. Lächelnd und mit halb geschlossenen Augen sang sie einen Song von Rasmus Seebach mit, während sie meine Bestellung aufnahm.
Reiß mein Herz heraus
Nimm es mit, wohin du gehst
Dein ist mein
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