Blutfrost: Thriller (German Edition)
wer die Flüssigkeit über Josefine gegossen hatte. Wenn die Mutter es getan hatte, musste der Vater sich ausrechnen können, dass sie es gewesen war. Und umgekehrt. Aber auch denjenigen, der es nicht getan hatte, traf eine Mitschuld, hieß es in der Anklagebegründung, sodass man davon überzeugt war, auch bei einem Kollektivurteil keinen Unschuldigen verurteilen zu können.
In diesem Punkt stützte man sich auf ein Urteil aus Ålborg, in dem ein sozial benachteiligtes junges Ehepaar wegen grober Gewalt gegen ihr Baby verurteilt worden war. Das sechswöchige Kind war mit frischen und verheilten Brüchen an Armen, Schienbeinen, Schlüsselbeinen und Rippen samt einer Teilfraktur der einen Hüfte ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Situation war im Grunde vergleichbar mit dem Fall hier. Auch dort war alles in einer Art locked room geschehen, also einem Raum, zu dem außer den beiden Verdächtigen niemand sonst Zugang hatte. Vater und Mutter leugneten ihre Schuld, gaben aber an, mit ihrem Kind allein gewesen zu sein. Sie konnten sich die Verletzungen nicht erklären. Das Gericht sah es hingegen als erwiesen an, dass niemand außer den Eltern diese Gewalt ausgeübt haben konnte. Da sich nicht klären ließ, wer von den beiden die Verletzungen verursacht hatte, wurden beide wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Ungeachtet der Tatsache, wer von beiden der tatsächliche Täter war, hatte der andere über Wochen schweigend zugesehen und damit eine ebenso große Schuld auf sich geladen. Beide bekamen fünfzehn Monate Haft ohne Bewährung.
Es gab also nur zwei mögliche Ausgänge des Verfahrens: entweder einen nicht zufriedenstellenden Freispruch oder eine ebenso wenig zufriedenstellende, weil symbolische Gefängnisstrafe.
Alle Plätze an der hinteren Wand waren besetzt, sodass an beiden Seiten zusätzlich Plastikstühle aufgestellt worden waren, die beinahe die Türen blockierten. Noch waren weder Richter noch Schöffen eingetroffen. Ich drehte den Zuschauern den Rücken zu und konnte kaum stillsitzen. Die Stimmung im Saal war sonderbar. In einem Gerichtssaal knisterte es immer vor Spannung und Nervosität, doch hier gab es noch etwas Zusätzliches, etwas, das die Stimmung anheizte, wie ein ruheloses Gespenst durch den Saal geisterte und sich wie eiskalte, in die Haut gedrückte Nadeln aus Angst bemerkbar machte. Der Saal übervoll, und doch wurde kein Wort gesprochen. Die Stille war erdrückend, die Gerüche bedrängend. Frauenparfüm, Männerparfüm, Schweiß, Menschen, Haare. Ich blickte mich unablässig um, sah aber nur Menschen, die mit gesenktem Blick auf ihre Beine starrten, an ihren Schnürsenkeln herumzupften, den Saum eines Rockes glätteten, sich lautlos in die vorgehaltene Hand räusperten, mit den unteren Schneidezähnen auf die Lippen bissen, an die Decke schauten oder den Blick nach vorn gerichtet hielten, ohne etwas zu sehen.
Links von mir saßen mein Bruder, seine Frau und ihr Anwalt, rechts von mir der Staatsanwalt Birger Frederiksen. Daniel sah bleich aus und stierte in den Saal, ohne irgendetwas zu fokussieren. Seine Frau saß mit gesenktem Kopf vornübergebeugt da und versteckte ihr Gesicht hinter ihren gebleichten Haaren. Es versetzte mir einen Schock, als sie sich plötzlich nach hinten lehnte und sich ausstreckte. Sie war schwanger. Nicht nur schwanger, hochschwanger, es sah fast so aus, als könnte ihr jeden Augenblick das Fruchtwasser abgehen. Ich hatte sie nur aus der Ferne gesehen, wie einen Schatten, der sich im Haus bewegte. Ihr Bauch war mir dabei nicht aufgefallen. Aber aufgrund des anstehenden Verfahrens war ich auch immer nur nachts an ihrem Haus vorbeigelaufen und hatte folglich nurSchatten, Silhouetten und flackerndes Licht gesehen. Zudem war ich voll und ganz auf Daniel konzentriert gewesen. Manchmal hatte ich ihn das Haus mit einem Hund an der Leine verlassen sehen. Einmal waren mir die beiden, er und der Hund, auf dem Bürgersteig begegnet. Die paar Sekunden hatten sich wie Jahre in die Länge gezogen und der dumme Köter hatte auch noch an mir schnuppern wollen.
Jetzt aber konnte ich meine Augen nicht von Eva nehmen. Daniel flüsterte ihr mit einem kleinen Lächeln irgendetwas zu und streichelte ihr über den Bauch. In mir kochte die Wut hoch. Da saßen diese Teufel und ließen es sich gutgehen, dabei schienen sie sich nur zusammengetan zu haben, um die Welt zu einem noch beschisseneren Ort zu machen, als sie es vorher bereits war. Eva musste die Wut in meinen Augen
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