Blutfrost: Thriller (German Edition)
hatte ich bereits zwei lange Tage auf einem engen, unbequemen Stuhl in einem Hörsaal hinter mir. Mein Rücken knirschte schmerzhaft, als ich mich mit dem Laptop auf das weiche Hotelbett legte.
Liebe Dr. Maria Krause,
als mein kleiner Bruder zum ersten Mal vom Wickeltisch fiel, spürte ich einen unbändigen Drang, einfach abzuhauen.
Meine Mutter hatte bereits in der Woche davor gesagt, John sei so stark geworden, dass sie ihn kaum noch halten könne, wenn sie ihn wickelte. Ich wusste genau, dass das eine Lüge war, denn ich übernahm diesen Job ziemlich oft, und er war immer lieb und bravund schien das Wickeln zu genießen. Außerdem wusste ich mittlerweile, wie sie sich mit Worten ihre eigene Wirklichkeit zurechtlegte, und ging bereits davon aus, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis etwas passierte.
An dem Tag, an dem ich den dumpfen Knall hörte, gefolgt von dem etwas verzögerten Babyweinen, wusste ich gleich, dass sie es getan hatte: Sie hatte ihn tatsächlich fallen lassen. Ich rannte ins Kinderzimmer, und sie tat ganz aufgeregt, während John sich neben dem Wickeltisch schreiend am Boden wälzte. Ich hob ihn hoch und versuchte, ihn zu trösten, aber sie stürzte sich natürlich gleich auf ihn, hüllte ihn in eine Decke und rannte nach draußen zu unserer Rostkutsche, wobei sie mir zurief, ich solle mitkommen, schließlich könne sie nicht gleichzeitig ein Kind halten und fahren. Dann drückte sie mir meinen kleinen Bruder in den Arm.
»Das hast du doch mit Absicht gemacht«, sagte ich und umklammerte ihn mit all meiner Kraft.
»Du spinnst doch, Kleine. Du hast wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und ich warne dich, wenn du so etwas drinnen beim Arzt sagst, dann …«, der Rest ging in wilden Beschimpfungen unter. Sie hatte mich zuvor schon mit Stiefeln durchs Haus getreten, meinen Kopf gegen die Fensterscheibe geschlagen und mich gegen eine Tür gestoßen, aber es waren nicht die Schmerzen, die ich fürchtete. Es war meine Mutter.
In der Notaufnahme sprudelten die Worte nur so aus ihrem Mund: »Es waren keine Windeln mehr in der Schublade der Wickelkommode, aber auf dem Brett darunter hatte ich noch eine Ersatzpackung. Ich habe sie ausgepackt und in die Schublade gelegt und habe die halbvolle Reservepackung dann wieder nach unten zurückgelegt, als das Baby plötzlich nach unten stürzte und auf den Fliesen aufschlug. Was soll ich sagen, es war so schrecklich. Es tut mir so fürchterlich leid! Ich war doch bei ihm, unmittelbar vor ihm. Und ich wusste doch, dass so etwas passieren könnte, deshalbhabe ich mich ja so beeilt. Er ist in den letzten Tagen schon so unruhig gewesen. Fürchterlich mobil – Mann, ich wusste das doch alles!«
Der Arzt in der Notaufnahme untersuchte John. Er hatte ein paar Schrammen auf der Nase, einen Kratzer am Kinn und eine Beule auf der Stirn.
»Sie glauben ja nicht, wie schrecklich es ist, wenn Ihr eigenes Kind vor Ihren Augen auf den Boden fällt.«
»Ihm ist doch nichts passiert. Diese kleinen Kerlchen sind ja noch wie aus Gummi. Aber passen Sie in Zukunft auf und legen Sie sich alles parat, damit Sie ihn nicht aus den Augen lassen müssen.«
»Wie aus Gummi, ja, da mögen Sie recht haben«, murmelte meine Mutter vor sich hin, als sie vom Parkplatz der Notaufnahme fuhr.
Es vergingen gerade einmal vier Monate, bis er wieder vom Wickeltisch »fiel«. Vielleicht hoffte sie darauf, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wie aus Gummi war? Dieses Mal hatte er eine große Beule am Kopf und einen blauen Fleck auf der Wange. Es passte zu meinem Gefühl, dass das Geschrei aus seinem Zimmer dieses Mal lauter gewesen war. Irgendwann wurde mir bewusst, dass meine Mutter eine Mörderin war, die bei mir bloß noch keinen Erfolg gehabt hatte und sich deshalb jetzt auf meinen kleinen Bruder konzentrierte. Vielleicht hatte sie bei ihm ja mehr Glück. Und danach? Würde sie sich danach wieder mir zuwenden? Steif vor Angst schlich ich durchs Haus und machte mich so unsichtbar wie nur möglich. Mein Gewissen belastete mich. Ich sollte meinen Bruder beschützen, hatte aber alle Hände voll damit zu tun, mich selbst zu retten.
Ich sah oft durch die Türöffnung in sein Zimmer, wenn sie die Windeln wechselte. Sie drehte mir immer den Rücken zu und machte mit mechanischen Bewegungen, was gemacht werden musste. Ich hätte in der Küche ein Messer holen können, hätte mich vonhinten anschleichen und sie erstechen können. Sie hätte mich nicht gehört, denn der Strom der
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