Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutfrost: Thriller (German Edition)

Blutfrost: Thriller (German Edition)

Titel: Blutfrost: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Staun
Vom Netzwerk:
Worte, die aus ihrem Mund kamen, versiegte nie. Ich spürte einen beinahe unwiderstehlichen Drang, ihr tatsächlich das Messer in den Rücken zu rammen, wagte es aber nicht. So oft stand ich da und sah zu, und manchmal ging ich tatsächlich in die Küche und zog die Schublade heraus, warf sie dann aber immer wieder laut zu. Ein einziges Mal habe ich das Brotmesser herausgenommen, es im Ärmel versteckt und mich mit auf dem Rücken verschränkten Armen in die Türöffnung gestellt. Aber meine Hände zitterten und mein Herz galoppierte, sodass ich mich schließlich wieder zurück in die Küche schlich und das Messer mit rabenschwarzem Gewissen wieder zurück in die Schublade legte. Wieder hatte ich meinen Bruder im Stich gelassen.
    Mutter hatte begonnen, lange Telefonate auf Dänisch zu führen. Sie sprach mit irgendjemandem, der sie lächeln und lachen ließ, Gespräche, die anfangs noch mit den Worten »Auf Wiederhören« beendet wurden, was sich aber schnell in ein »Bis ganz bald« verwandelte. Die eigentlichen Gespräche hörte ich nicht, denn sie telefonierte meistens, wenn ich nicht da war, nur das Ende bekam ich manchmal mit, und es entging mir auch nicht, wie glücklich sie aussah, wenn sie den Hörer auflegte. Man musste kein Einstein sein, um sich auszurechnen, mit wem sie telefonierte.
    In dieser Zeit setzte ich mich mehr und mehr mit der Landkarte des Staates New York auseinander. Ich wollte im Staat bleiben, aber wohin sollte ich gehen? Weit genug, um frei von ihr zu sein. Und nah genug, um … Was? Sie zu beobachten? Ich weiß es nicht. Ich war einfach in den Gedanken verliebt, abzuhauen, nur eben nicht zu weit.
    Einmal auf dem Rückweg von der Schule fiel mein Blick auf eine Ausgabe der New York Times, die zwischen Dosen und Burgerverpackungen aus einem Mülleimer ragte. Ich fragte mich, wer in dieserStadt der Säufer und Loser eine Zeitung mit derart wenigen Bildern las. Zuerst registrierte ich nur das Seltsame daran und ging weiter. Dann drehte ich um und zog sie heraus. Und als ich nach Hause kam, las ich sie von Anfang bis Ende. Wie groß die Welt doch war! In allen möglichen Ländern, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, geschahen merkwürdige Dinge. Ich studierte Stellenanzeigen, die ich kaum verstand, und sah mir die kleinen Schwarz-Weiß-Bilder von Menschen an, die eigentlich nicht schön genug waren, um in einer Zeitung abgedruckt zu werden. Ich war sechzehn und in allem hoffnungslos zurückgeblieben, denn ich war kaum in der Schule gewesen, war dreimal sitzengeblieben und ging noch immer in die achte Klasse. Wer würde jemandem wie mir Arbeit geben? Was konnte ich überhaupt? Ich zählte meine Fähigkeiten an den Fingern ab: Putzen, Eier kochen, Pudding machen, Spaghetti Bolognese zubereiten … aber das war’s auch schon. Doch, vielleicht konnte ich noch servieren. Auf jeden Fall könnte ich das lernen, und irgendwo saubermachen konnte ich bestimmt auch. Das musste reichen. Ich schloss die Augen und legte den Finger irgendwo auf die Karte. Als ich sie wieder öffnete, lag mein Finger auf Rochester. Ich sollte nach Rochester gehen. Aber es blieb bei dem Traum, bis meine Mutter sieben Monate später mit leeren Händen aus dem Krankenhaus zurückkam, nachdem mein Bruder nach drei Tagen auf der Intensivstation an einer subduralen Blutung infolge eines Sturzes vom Wickeltisch verstorben war. Mutter war im Krankenhaus ohnmächtig geworden, »einfach so, mitten auf dem Flur«, erzählte sie und verkündete kalt, dass sie sich jetzt um sich selbst kümmern musste. Von nun an müsste sie ihre eigenen Bedürfnisse ernst nehmen, schließlich sei ihr Kind in ihren Händen gestorben.
    Als ich am Abend im Bett lag, hörte ich wieder Bruchstücke eines dieser glücklichen Telefonate, das erneut mit »Bis ganz bald« endete. Dieses Mal noch gefolgt von dem Nachsatz: »Ich liebe dichauch.« Mein Vater saß direkt neben ihr, aber das war ihr egal. Er konnte kein Dänisch, und außerdem war seinem glasigen Blick zu entnehmen, dass er ohnehin nichts verstand.
    Am nächsten Morgen gab ich vor, in die Schule zu gehen, doch stattdessen packte ich die wenigen Sachen ein, die ich glaubte, nicht entbehren zu können – die New York Times aus dem Mülleimer, sieben Unterhosen und eine Bluse, meine Zahnbürste und eine Karte des Staates New York. Ich warf einen Blick ins Schlafzimmer, in dem mein Vater schnarchte, sodass sein gewaltiger Bauch bebte. Leb wohl Papa, dachte ich.
    Aus dem Greyhound-Bus wurde

Weitere Kostenlose Bücher