Blutfrost: Thriller (German Edition)
explizit gebeten hatte.) Außerdem müssen wir uns doch kennenlernen … Aber Moment, das war doch verrückt. Über Monate hatte ich nichts von ihr gehört, und plötzlich schrieb sie mir einen kleinen Roman? Mein Kopf suchte brummend nach einem Gedanken, der eine Brücke zu Emily bauen und alldem einen Sinn geben konnte. Plötzlich war sie ganz dicht bei mir – aber was war in der Zwischenzeit passiert? War die Seele dieses Mädchens so zerstört, dass sie sich nicht nur schwarz kleidete, sondern auch innerlich schwarz war, für längere Phasen abtauchte, unter der Erde verschwand? War sie depressiv? Manisch? Borderline? Kaputt? Und wo musste sie jetzt so plötzlich hin? War ihr etwas passiert? Es durfte ihr nichts geschehen. Mit wem war sie zusammen?
Sonderlich groß war sie ja nicht. Im Gegenteil, sie wirkte so klein, und ich wollte so gerne auf sie aufpassen. Ja, für mich war längst klar, dass das schwarzgekleidete, viel zu junge Mädchen aus dem Gerichtssaal Emily war. Vielleicht war sie einfach nur klein und wirkte jünger, als sie war, schließlich hatte der Lastwagenfahrer sie für dreizehn gehalten, als sie sechzehn war.
Ich sah auf die Uhr: Für den langen Tag, der hinter mir lag, war es viel zu spät geworden. Und der kommende Tag sollte noch anstrengender werde. Ich nahm eine Schlaftablette und stellte den Wecker, doch noch bevor ich einschlief, sah ich alles vor mir: Wie ich ihr mit dem Kokosöl, das ich von Nkem bekommen hatte, die schwarze Farbe abwusch, die Kohle von ihren Augen wischte und ihr die Haare wusch, wie ich den grauschwarzen Farbwirbel im Abfluss der Wanne verschwinden sah, während sie mit ihrer hellen Haut und zusammengekniffenen Augen wie ein Kind auf dem weißen Emaille saß. Ich stellte mirvor, wie ich sie mit dem großen Badetuch abrubbelte und wie wir zusammen überlegten, wie wir die Tattoos und Narben von ihren Armen entfernen lassen konnten, um Tabula rasa zu machen und von vorn anzufangen. Und zu guter Letzt: Wie sie mit zerzausten Haaren aus dem Bett aufstand und sich noch im Pyjama einen Tee machte, während mein schwanzloser Kater sich an ihrem Bein rieb.
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Als ich vier Tage später kurz nach neun Uhr ins Institut kam, war der Freispruch von Eva und Daniel Sommer gerade bekannt geworden. Alle standen mit ihren Kaffeetassen auf dem Flur und diskutierten den Fall. Das Urteil weckte bei Polizei und Staatsanwaltschaft nur Verärgerung, und fast niemand verstand die Urteilsbegründung, die Bonde Madsen bereitwillig vorlas:
Laut Aussage der Angeklagten wurde Josefine nicht aus Versehen mit basischer Flüssigkeit oder Ähnlichem überschüttet, bevor sie schlafen gelegt wurde, des Weiteren konnte sich keiner der Angeklagten erklären, wie es zu den Verletzungen gekommen war. Es deutet nichts darauf hin, dass die Tat von beiden oder einem der Angeklagten, ob mit oder ohne Wissen oder Einverständnis des anderen, verübt wurde. Das Gericht erachtet die vorgelegten Beweise als nicht ausreichend, um mit Sicherheit davon auszugehen, dass die beiden Angeklagten, allein oder gemeinsam, Josefine diese Verletzungen zugefügt haben.
Obgleich das Gericht, wie Fyn Nielsen meinem Chef erklärt hatte, es als bewiesen ansah, dass einer der Angeklagten schuldig sein musste, hatten Mutter und Vater das Gericht unbehelligt verlassen können. Für mich ergab das keinen Sinn, und der Staatsanwalt war anscheinend so wütend gewesen, dass er sofort Berufung eingefordert hatte. Ich selbst wollte nur so schnell wie möglich weg von den laut redenden Menschen und schlüpfte in mein Büro, um nachzusehen, ob ich eine E-Mail von Emily bekommen hatte. Seit ihrer letzten, langen Botschaft hatte ich nichts mehr von ihr gehört, aber sie hatte weder geantwortet noch angerufen. Wo war sie? Was war mit ihrlos – na ja, eigentlich wusste ich das ja – aber was hielt sie davon ab, mir zu schreiben? Ich machte mich daran, all die E-Mails durchzugehen, die sich angesammelt hatten, als plötzlich, kurz nach zwölf, eine Nachricht von ihr kam:
Liebe Maria,
entschuldige, dass ich mich nicht mehr gemeldet habe, aber ich hatte irgendwie den Faden verloren. Manchmal geht es mir einfach scheiße. Ich habe immer versucht, all das Geschehene wie einen Film zu betrachten, wie etwas, das anderen passiert ist und das ich nur sehen darf, weil ich mir eine Kinokarte gekauft habe. In der Regel gelingt mir das sogar. Aber dann gibt es auch wieder Momente, in denen das nicht klappt, und dann spüre ich, dass dieser Film
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