Blutfrost: Thriller (German Edition)
wollte sie aber auch nicht fragen, worüber sie geredet hatte. Ich war wie gelähmt.
»Wie geht es dir?«, fragte sie wie üblich und setzte sich, ohne mir in die Augen zu blicken, was sie sonst immer tat.
»Gut.« Ich legte den Bericht auf ihren Schreibtisch. »Ich habe keine weiteren Kommentare dazu, nur das, was ich schon geschrieben habe.« Ich schob den Papierstapel mit einem Finger zu ihr hinüber.
»Fantastisch«, sagte sie, noch immer ohne mich anzusehen. Ich konnte aber nicht erkennen, ob sie den Text, der vor ihr lag, wirklich las oder nur so tat. Als ich ging, quälte mich die Frage, ob sie über Daniel geredet hatten. Hatte Nkem verraten, dass er mein Bruder war? Aber nein, das würde sie niemals tun. Ich blieb mitten auf dem Flur stehen und machte kehrt. Oder doch? Wieder blieb ich stehen. Ich wollte mich nicht zu einer Frage herablassen. Das wäre einfach zu jämmerlich. Bestimmt hatten sie über Nkems Bruder gesprochen, der dabei war, die Herrschaft über die Welt zu übernehmen oder wenigstens über Nigeria.
Als ich nach unten in mein Büro kam, war ich ziemlich überzeugtdavon, dass Karoly nicht einmal ahnte, dass Nkem einen Bruder hatte. Kannten sie sich überhaupt? Nkem und Karoly? Ich hatte sie vorher noch nie zusammen gesehen. Nkem war nie in unsere Zusammenarbeit mit der Polizei involviert gewesen. Verdammt. Das mit Daniel durfte einfach nicht herauskommen. Nicht jetzt.
Ich setzte mich und sah, dass ich schon wieder eine E-Mail von Emily bekommen hatte:
Erinnerst du dich daran, dass ich dir erzählt habe, dass ich mit dem Brotmesser vor dem Zimmer meines kleinen Bruders stand? Ich wusste, dass meine Mutter ihn wieder quälen würde, und hatte Angst um sein Leben. Ich fühlte mich verantwortlich und war verzweifelt. Meine Lust, sie umzubringen, war überwältigend, aber ich schaffte es ganz einfach nicht. Ich war wie gelähmt vor Angst – nicht vor den Konsequenzen. Das wurde mir klar, als ich mit dem Messer dastand. Ich hatte keine Angst, ins Jugendgefängnis zu kommen, mich dem System zu stellen, das wäre nur befreiend gewesen. Nein, nicht das hatte mich zurückgehalten. Vielmehr die Tatsache, dass das Messer in meiner Hand gezittert hatte – aus Angst vor ihr –, und das kann ich mir selbst nicht vergeben.
Ein paar Jahre, nachdem ich nach Rochester gezogen war, wurde mir irgendwann bewusst, dass sie jetzt ja keine Kinder mehr hatte. Das eine hatte sie umgebracht, das andere war abgehauen. So ein Leben war nichts für sie, sie konnte nicht ohne Kinder leben. Sie musste sich einen neuen Mann suchen, bestimmt diesen Arzt, der sie so angestrahlt hatte und mit dem sie am Telefon immer so glücklich Dänisch geredet hatte. So ist das doch im Leben: Die Menschen verlieben sich und bekommen Kinder. Besonders bei meiner Mutter. Besonders meine Mutter bekommt Kinder. Ich bekam Panik, und schwitzte schon bei dem Gedanken.
Tags darauf hatte ich einen meiner schrecklichen freien Tage. Ich trampte nach Rexville, wagte es aber nicht, ins Haus zu gehen, sollte sie noch da sein.
Der Supermarkt war die Überwachungszentrale der Stadt. Die Frau an der Kasse wusste über jede Bewegung Bescheid, die die gut sechshundert Einwohner der Stadt machten, weshalb ich zu ihr ging und ein Päckchen Wrigley’s aufs Band legte.
»Na, wieder zurück?« Ihr Falkenblick musterte mich.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich will nur Vater und Mutter besuchen.«
Sie zog die Augenbrauen hoch und nahm das Geld entgegen. »Deine Mutter ist weg«, sagte sie. »Aber dein Vater freut sich bestimmt, dich zu sehen.«
»Wo ist sie denn hingegangen?«, fragte ich.
»Keine Ahnung, dein Vater weiß es auch nicht.«
Ich drehte mich um und ging. Das Kaugummi, das ich gekauft hatte, ließ ich ganz bewusst liegen. Eines Tages, hoffte ich, würde es jemanden geben, der mir etwas nachrufen würde, wenn ich mein Kaugummi vergaß. Sie tat es nicht. Niemand tat das, obwohl ich das bei anderen so oft gesehen hatte, nicht bei Kaugummi, sondern bei allem möglichen anderen. »Sie haben Ihren … Blumenkohl vergessen, Ihre … Kondome, sie haben Ihr …« Ach egal, so etwas riefen die Verkäuferinnen überall in der Welt ihren Kunden nach, nur nicht mir.
Ich ging zum Haus. Vielleicht wusste er ja doch, wo sie war. Als ich die unverschlossene Tür öffnete, lag er mitten auf dem Flur und schlief seinen Rausch aus. Ich kriegte ihn einfach nicht wach. Das ganze Haus war voller Müll und stank unbeschreiblich. Ich räumte auf, lüftete und
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