Blutfrost: Thriller (German Edition)
wusch ab, ohne dass er wach wurde. Irgendwann hielt ich es einfach nicht aus, noch länger dort zu sein, und begann mit dem, weshalb ich gekommen war. Aus der untersten Schublade meiner Mutter suchte ich all meine Krankenhauspapiere heraus. Sie hatte sie in einem hübschen, roten Lackkästchenverstaut, als wären das ihre Kronjuwelen. Ich hatte mir damals, nachdem ich insgeheim einen Blick auf die Karte des Arztes geworfen hatte, seinen Namen eingeprägt, ihn dann aber doch vergessen. Die Papiere sagten mir, dass das Krankenhaus, in dem ich zum ersten Mal das Wort Urethra gehört hatte, in Buffalo lag und dass der Arzt Daniel Krause hieß. Als ich dort anrufen wollte, stellte ich fest, dass die Leitung tot war. Vater hatte die Rechnungen wohl nicht bezahlt. Ich nahm mein Handy und bat darum, mit Dr. Daniel Krause verbunden zu werden, erfuhr dann aber, dass er nicht mehr im Krankenhaus angestellt sei, sondern eine urologische Praxis in Rochester eröffnet habe. Es war schon verrückt, ich war aus Rexville weggelaufen und meine Mutter war mir gefolgt, ohne zu wissen, wo ich war. Dabei hatte ich mich die ganze Zeit über sicher und außerhalb ihrer Reichweite gefühlt. Allein der Gedanke daran, wie nah sie mir gewesen war, ließ mich schwindelig werden.
Andererseits waren sie so leicht zu finden. Als ich sie schließlich, verkleidet mit Hut und Brille, in einem Riesenhaus im Nobelvorort Pittsford entdeckte, verschlug es mir den Atem. Sie war schwanger. Ich tippte auf den sechsten oder siebten Monat. Sie stand in einem Zimmer mit leeren Wänden und war dabei, alle möglichen Sachen in Umzugskartons zu stopfen. Der Anblick ihres Bauches ließ mich so wütend werden, dass ich zu weinen begann und einfach ging. Ich lief und lief, wie ich es schon so oft getan hatte. Ich glaube, in diesem Moment fasste ich den Entschluss, dass sie sterben musste, bevor sie dieses Kind auf die Welt gebracht hatte. Ich belauerte das Haus eine Woche lang jeden Abend. Ich wusste, dass sie umziehen wollten und dass ich deshalb vermutlich nur wenig Zeit zur Vorbereitung hatte. Es durfte nichts schiefgehen, und dieses Mal wollte ich ihretwegen nicht ins Gefängnis, denn inzwischen hatte ich irgendwie verstanden, dass da draußen vielleicht auch auf mich ein Leben wartete. Ich suchte nach einer Möglichkeit, wartete ab,dass sie auftauchte, und hoffte, dass ihr neuer Mann sie irgendwann abends alleine ließ.
Jeden Abend schlich ich mich zu ihr, beobachtete von draußen das Haus und wartete auf eine Gelegenheit, die nicht kam. In der roten Sporttasche, die ich dabei hatte, lag ein solider Ast von einer Eiche, den ich im Park gefunden hatte. Er hatte sich mir fast aufgedrängt, um ihr damit eins überzuziehen, sodass sie zu Boden ging. Und ein Messer, das gleiche, mit dem ich immer mich selbst geritzt hatte. Es musste dieses Messer sein, frag mich nicht, warum. Jeden Abend hockten sie über die Umzugskisten gebeugt, sortierten, schmissen weg und lachten zusammen. Sie sahen aus wie ein glückliches Paar. Es war nicht auszuhalten. Und eines Abends, als ich wiederkam, war das ganze Haus leer. Sie waren weg.
Ich schlug ein Kellerfenster ein und öffnete das Schloss. Ich wollte mich vergewissern, dass es wirklich so war, wie es von draußen ausgesehen hatte. Drinnen war kein einziges Möbelstück mehr. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie gezogen waren, und musste also wieder von vorne anfangen. Diese Niederlage war kaum zu verkraften, ich fühlte mich, als würde ich ausgepeitscht werden, und das lähmte mich. Natürlich vergaß ich sie nicht, sie und ihren schwangeren Bauch, aber ich hatte keine Ahnung, wo sie war oder wo ich sie suchen sollte. Zwei Jahre später erfuhr ich dann, dass sie wie aus dem Nichts in Dänemark aufgetaucht war, in Odense. Das lag irgendwie außerhalb meiner Reichweite, aber vielleicht könnte ich ja ihren Mann gegen sie aufbringen, wenn er die Wahrheit über das erfuhr, was sie meinem Bruder und mir angetan hatte. Ich wusste nur nicht, dass er – oder sie – den Namen gewechselt hatten, weshalb ich anstatt seiner deine E-Mail-Adresse bekam. Aber jetzt, da ich sie gemeinsam im Gerichtssaal gesehen habe, weiß ich, dass ich auf Daniels Hilfe nicht zählen kann. Die Art, wie sie zusammen waren – wie soll ich das sagen – mir bleibt nur ein Weg.
Deshalb bitte ich dich jetzt – als meine Freundin –, lösch alle E-Mails, die ich dir geschickt habe. Und denk auch daran, die Nachrichten zu löschen, die du geschickt hast.
Deine
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