Blutfrost: Thriller (German Edition)
Emily
PS: Kannst du mir sagen, wo in der Brust man zustechen muss, wenn man das Herz treffen will?
Ich las die E-Mail zweimal. Panik rauschte in meinen Ohren. Sie wollte ihre Mutter umbringen, daran gab es keinen Zweifel. Es gab aber ein Problem, ein kleines Detail, das mein Herz pochen und knistern ließ, und das war die Tatsache, dass ich ihr Vorgehen billigte. Emily zuliebe, dem verätzten kleinen Mädchen zuliebe und Evas ungeborenem Kind zuliebe. Ich begrub meinen Kopf in den Händen und verurteilte mich selbst. Wollte ich wirklich normal sein, waren diese Gedanken verkehrt. Aber sie verschwanden nicht, und irgendwann begann ich mich selbst wegen meiner Doppelmoral zu beschimpfen. Vor gerade mal einem Jahr war ich nach Freiburg gefahren, um dort einen Menschen umzubringen, weil die Welt ohne ihn ein besserer Ort wäre und weil er Frauen gequält und getötet hatte und ungestraft davongekommen war. Ich verdrängte alle weiteren Gedanken und schrieb:
Mitten in die Brust
Und dann begann ich, ihre Nachrichten zu löschen. Während ich das tat, hatte ich plötzlich Daniel und seinen Hund im Kopf; wir waren wortlos aneinander vorbeigelaufen, den Blick auf den Boden oder in einen Garten gerichtet, der uns interessierte.Manchmal war ich auf die andere Straßenseite gegangen, andere Male hatten unsere Arme sich fast berührt, wenn wir aneinander vorbeigingen. Ohne nachzudenken, schrieb ich:
Sie haben einen Hund. Daniel geht jeden Abend nach den Neun-Uhr-Nachrichten mit ihm Gassi, etwa eine halbe Stunde lang.
Verdammt!, platzte ich laut hervor, nachdem ich die E-Mail abgeschickt hatte. Das Adrenalin schoss wie die Injektion einer eiskalten Flüssigkeit durch meine Adern. Wenn sie es dieses Mal wirklich tat, hatte ich mich mitschuldig gemacht. Ich schrieb ihr eine dritte Nachricht:
Ich lösche jetzt alle deine E-Mails. Bitte mach du das auch mit meinen.
Einen Moment lang saß ich da und fragte mich, was mit mir eigentlich nicht in Ordnung war. Was ging in meinem Kopf vor? Jetzt tu doch nicht so unschuldig , flüsterte eine Stimme tief in mir, irgendwo im Dunkeln, wo es kein Herz gab, sondern nur eine große, giftige Schlange. Du willst doch, dass sie ihre Mutter umbringt, während Daniel mit dem Hund unterwegs ist. Und du willst, dass Daniel für den Mord, den er nicht begangen hat, zur Rechenschaft gezogen wird. Weil er das verdient hat. Und du verstehst Emily. Du verstehst, dass sie das tun muss.
Ja, dachte ich, und plötzlich kam mir das Ganze vollkommen gerecht vor. Daniel würde eine kleine Pause bestimmt guttun, um über sein Leben nachzudenken. Und die Frau? Münchhausen-Frauen kommen fast immer ungestraft davon. In der Regel sind sie perfekte Schauspielerinnen und als Betrügerinnen unheimlich überzeugend. Wie oft hatte ich sie nicht in Interviews oder Talkshows sitzen und ihre Unschuld beteuern sehen! Eswar wirklich nicht auszuhalten, wenn man wusste, was sie alles getan hatten. Häufig riefen die Frauen selbst bei den Zeitungen oder Fernsehsendern an, und wenn sie gerade erst einen Prozess gewonnen und ihre Kinder zurückbekommen hatten, waren das gute Storys, dann gab man diesen ungerecht behandelten und zu Unrecht verdächtigten Frauen gerne mal zwanzig Minuten Sendezeit. Ich starrte Andy Warhols Suppendose an, die an der Wand hing.
Die Berufung war eingelegt worden. »Mit dem Gesetz soll das Land gebaut werden«, so stand es in Stein gemeißelt am Gerichtsgebäude in Kopenhagen. Aber die Chance, dass ich sie von jedem Verdacht enthoben aus dem Landgericht würde treten sehen, wo sie den wartenden Journalisten Rede und Antwort stand, oder auf irgendeinem blauen Sofa einer Talkshow, auf dem sie erzählte, welch grausame Dinge sie hatte durchmachen müssen, war verdammt groß. Ich beschloss, meinen Freund Dr. Glas zu konsultieren, nahm das Buch aus der Schublade und las noch einmal einen der Abschnitte, die mein Chef markiert hatte: Wenn ich etwas sehe, das mich empört, will ich eingreifen. Ich greife nicht jedes Mal ein, wenn ich eine Fliege im Spinnennetz sehe, denn die Welt der Spinnen und der Fliegen ist nicht die meine, und ich weiß, dass man sich beschränken muss, außerdem mag ich Fliegen nicht. Sehe ich aber ein schönes kleines Insekt mit golden schillernden Flügeln im Netz, so zerreiße ich dieses, und wenn es sein muss, töte ich die Spinne, denn ich glaube nicht daran, dass man keine Spinnen töten darf. – Ich bin im Wald unterwegs; ich höre Hilferufe; eilends gehe ich den Schreien
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