Blutgeld
der Name des Geschäftsführers der Bank sowie die Telefon-, Fax- und Telexnummern.
Als sie die Liste überflog, fiel Lina auf, dass ihr viele Namen schon mal begegnet waren: Banque des Amis in Curaçao zum Beispiel, Banque Metropole in Montreal und Tariqbank in Bahrain. Sie erinnerte sich daran, die Namen schon einmal gesehen zu haben: auf einem der Blätter aus Nassir Hammuds Dateien. Lina riss die letzte Seite aus dem Jahresbericht heraus und steckte sie in ihre Handtasche.
Sam kam schließlich gegen halb drei, um Lina abzuholen. Er hatte erhitzte, rote Wangen und seine Augen waren müde und schwerlidrig. Als er sich an Nicole vorbeizwängte, um Lina einen feuchten Kuss zu geben, begriff sie, was mit ihm nicht stimmte. Er war betrunken, man roch es meilenweit gegen den Wind. «Du siehst ja schrecklich aus», sagte sie. «Was hat dich aufgehalten?»
«Mach dir meinetwegen keine Sorgen», flüsterte Sam und lehnte sich unsicher an sie. «Ich habe mit meinem Alten alles geklärt. Er hat Mercier angerufen. Es ist alles arrangiert. Du kannst hier sofort raus.»
Lina wandte sich zu Nicole. «Stimmt das?»
Die Schweizerin nickte. Sie wirkte enttäuscht.
«Und das ist noch nicht alles», sagte Sam. «Du wirst in London einen neuen Job kriegen und alles.»
Sie beäugte ihn misstrauisch. «Was für einen Job? Wovon redest du? Ich habe nicht um einen Job gebeten.»
«Schhh!», sagte er und legte seinen Finger auf den Mund. «Später.»
Nicole führte sie zurück durch den schmalen Korridor zum vorderen Teil des Gebäudes. Anstatt beim Vordereingang stehen zu bleiben, ging sie daran vorbei und führte sie eine Treppe hinunter ins Untergeschoss. Eine schmalere Treppe führte sie noch weiter unter die Erde, zu einer grünen Tür.
«Wo gehen wir hin, Schätzchen?», fragte Sam. Er fing sogar schon an, wie sein Vater zu reden.
«Monsieur Mercier meint, es sei besser, wenn Sie das Gebäude durch den Privatausgang verlassen», erklärte Nicole. «So wird Sie niemand belästigen.»
«Mein Vater hat sich um alles gekümmert», murmelte Sam.
«Wo führt der Tunnel hin?», fragte Lina. Sie war inzwischen auf der Hut vor dunklen Gängen.
«In die Rue de la Tertasse, hundert Meter von hier. Sie gehen eine Treppe hinauf, öffnen eine Tür, und dann sind Sie in einem Hof abseits der Straße. Bitte achten Sie darauf, die Tür hinter sich richtig zuzumachen.» Die Schweizerin schloss die Tür auf und knipste gleich neben dem Eingang einen Lichtschalter an. Der Gang wurde beleuchtet, er war gerade breit genug für eine Person.
«Vielen Dank», sagte sie und schüttelte ihnen die Hände. «Besuchen Sie uns wieder.» Das war eine letzte, absurde Geste schweizerischer Höflichkeit. Lina fragte sich, wie viele Kunden ihnen auf diesem Weg vorausgegangen waren, sich aus dem hochgeschätzten Crédit Mercier wie gemeine Diebe fortgeschlichen hatten.
Als Sam und Lina sich durch den unterirdischen Gang auf den Weg machten, hörten sie, wie hinter ihnen die Tür zugezogen und abgeschlossen wurde. Über ihnen war das hektische Kratzen von Krallen zu hören, von einer Ratte, die davonhuschte. Lina war als Erste durch die Tür gegangen und ging jetzt auch in dem schlechtbeleuchteten Gang voraus. Es roch abgestanden wie nach Verfall, dem stinkenden Geld von Toten. Sie tauchten genau dort wieder auf, wo die Schweizerin gesagt hatte, in einem kleinen Hof, der auf eine enge Straße ging, mitten im alten Geschäftsviertel. Lina schloss die Tür hinter Sam sorgfältig. Er wollte auf die Straße hinausgehen, aber Lina zog ihn in den Schatten des Hofs zurück.
«Moment», sagte sie in dem bestimmten Ton einer Lehrerin. «Wir gehen nirgendwohin, bevor du mir nicht sagst, was hier los ist.»
«Habe ich dir doch gesagt. Es ist alles geklärt. Ich hab mit meinem Dad gesprochen, und er hat alles geregelt.» Er wirkte immer noch beduselt. Lina wünschte sich, sie könnte ihm eine Ohrfeige geben, damit er aufwachte.
«Worauf hast du dich eingelassen, Sam?»
«Auf nichts. Ich hab bloß gesagt, dass du dich zurückziehen und aufhören würdest, Ärger zu machen. Mehr wollten die gar nicht. Und genauso hab ich’s ihnen gesagt.»
«Das hast du ihnen versprochen?» Sie wirkte betroffen.
«Sicher. Das war die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass Mercier die Polizei benachrichtigt. Und nach dem, was mir mein Dad erzählt hat, schien es mir das einzig Richtige zu sein. Diese ganze Sache ist sehr viel komplizierter, als wir geahnt haben.»
Ihre
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