Blutgeld
er soll sich den ganzen Scheiß mit der Polizei aus dem Kopf schlagen. Er wird sie gehen lassen, glaub mir. Hinter seiner aalglatten Art ist er genauso gierig wie alle anderen auch. Und ich bin immer noch der Treuhänder des größten Kontos, das er je gesehen hat.»
Sam betrachtete das verwüstete Gesicht seines Vaters; die hervortretenden Adern zeichneten ein Leben nach, das die Summe von Tagen wie diesem war. «Was machst du, wenn ich weg bin, Dad? Bist du sicher, dass du zurechtkommst?»
«Ich? Ich werde mich aufs Ohr hauen.»
39
Bald nachdem die beiden Hoffmans gegangen waren, begann Lina, ihre holzgetäfelte Zelle im Crédit Mercier zu erkunden. Sie hatte keine Ahnung, was sie finden würde, aber sie hatte ihre in Bagdad erworbene Überzeugung nicht verloren, dass sie jeden Augenblick ihres Lebens nutzen musste. Sie fing in der Mitte des Raumes an, bei dem langen Tisch. Nichts dort. Keine Schubladen, keine Öffnungen, nur der leuchtende Glanz von poliertem Holz. Rechts war eine Sitzecke mit zwei Ohrensesseln und Leselampen. Am anderen Ende standen ein Tisch und ein Telefon. Der Raum hatte Verandatüren, die zu einem kleinen Garten führten, der ummauert war, damit niemand hereinsehen konnte. Die Türen waren abgeschlossen. Sie suchte den Raum nach einer Überwachungskamera ab, konnte aber keine entdecken.
Die einzige Form der Überwachung war offenbar die junge Empfangsdame, die alle halbe Stunde den Kopf zur Tür hereinsteckte und ihr einen hochnäsigen Blick zuwarf. «Die haben Sie vergessen», sagte sie scharf, als wäre Linas Warten ein unwiderlegbarer Beweis für die Unzuverlässigkeit der Menschheit. Wie Lina erfuhr, hieß die Frau Nicole und kam aus einem Dorf bei Zug, aber sie weigerte sich, noch weitere Fragen zu ihrer Person zu beantworten. Sie schien der Meinung zu sein, dass sich Linas Probleme verringern ließen, wenn sie etwas äße, und im Verlauf des Vormittags brachte sie ihr Kaffee, dann einen Imbiss mit Croissants und Sahneküchlein, dann ein Mittagessen, bestehend aus Zwiebelsuppe, Lammrippchen und Apfelstrudel. Jedes Tablett kam mit schwerem Silberbesteck und steifen Leinenservietten an. Lina ließ alles zurückgehen, ohne irgendwas anzurühren. Nicole schmatzte mit den Lippen, als sie die unangetasteten Tabletts wieder abräumte. Ungezogenes Mädchen, schien sie sagen zu wollen. Kein Wunder, dass sie dich vergessen haben.
Weil Lina glaubte, nicht beobachtet zu werden, hatte sie den Mut, den Raum genauer zu erkunden. Sie untersuchte das Telefon. Es gab drei Apparate. Sie notierte die Nummern in ihrem Kalender. In der mittleren Schublade des Tisches fand sie ein Exemplar des bankinternen Telefonverzeichnisses. Es war sechs Seiten lang, nach Abteilungen geordnet und wie ein Schaltplan der Firma. Crédit Mercier hatte eine Abteilung für Geschäftskonten, eine für Handel und Verkauf und eine für Großhandelsgeschäfte – und es gab pro Abteilung nur einen Angestellten. Die Ressourcen der Firma waren auf die Gebiete konzentriert, die für das Verstecken von Geld nützlich waren. Die Treuhandabteilung hatte zehn Angestellte, die Abteilung für internationalen Geldverkehr hatte acht und die Sicherheitsabteilung fünf. Die nützlichste Information fand sich auf der letzten Seite. Drei Angestellte arbeiteten in der Kommunikations- und EDV -Abteilung. Ihre Telefonposten waren ebenfalls aufgeführt, zusammen mit den Fax- und Telexnummern der Bank. Sehr schweizerisch. Ordentlich, übersichtlich und gut organisiert. Lina trug die Namen und Nummern in ihrem Kalender ein.
In der Seitenschublade des Tisches fand sie noch etwas Interessantes – ein Exemplar des Jahresberichtes der Bank. Es war ein imposanter Band, auf schwerem Papier gedruckt, und auf dem Einband war der Buchstabe M geprägt. Auf Seite drei fand sie Merciers Brief zum Jahresende an die Kunden; er ließ sich über die Stabilität des Schweizer Franken aus und über die Aussichten auf wirtschaftliches Wachstum in den bedeutenderen Ländern des Westens. Dann kamen eine Reihe von Schaubildern und Bilanzen, die Crédit Merciers Stabilität und umsichtige Geschäftsführung bestätigten, und ein Bericht der Wirtschaftsprüfer in unverständlichem Fachjargon. Auch diesmal war es die letzte Seite, die die Leckerbissen bereithielt. Dort waren alle Banken aufgelistet, mit denen Mercier Geschäftsverbindungen unterhielt. Es war eine lange Liste mit beinahe vierzig Banken, über den ganzen Globus verstreut. Neben jeder Eintragung standen
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