Blutgeld
seltsamerweise hatte noch niemand Anstalten gemacht, sich mit ihm zu unterhalten. Lina sah, dass Hoffman von dem Besucher fasziniert war.
«Er ist sehr tapfer», sagte sie leise. «Aber er sollte nicht hier sein.»
«Wieso nicht?»
«Weil es gefährlich ist.»
Hoffman nickte. «Gehen wir zu ihm und unterhalten uns mit ihm. Da offenbar niemand sonst das Bedürfnis hat.»
Sie schüttelte den Kopf. Sie schwiegen einige Sekunden. Hoffman betrachtete den Blinden, während dieser weiter durch den Raum ging. Es redete immer noch niemand mit ihm. Als hätten sie alle Angst, oder als wären sie wütend. Der Trubel der lebhaften Dinner-Party war plötzlich in ein peinliches Schweigen umgeschlagen. Hoffman sah sie auffordernd an, aber wieder schüttelte sie den Kopf.
Schließlich ging Marwan Darwish auf den blinden Besucher zu. Der Gastgeber war fahl im Gesicht. Seine ganze Selbstgefälligkeit schien mit einem Mal verschwunden zu sein. Er beugte sich zu Jawad vor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Dichter fixierte ihn mit einem blinden Blick, drehte sich um und ging dann langsam mit seiner Begleiterin durch den Raum zurück zur Haustür. Dann war er verschwunden. Die meisten Gäste hatten sich während dieser Szene abgewandt, aber Hoffman hatte jede Sekunde davon beobachtet.
«Das war ja grauenhaft», sagte er, als Jawad gegangen war und die Unterhaltungen wieder eingesetzt hatten. «Die Leute haben sich benommen, als hätte er Aussatz.»
«Pst», sagte Lina. Sie sah jetzt fast noch nervöser aus als vorher.
«Aber es hat sich nicht mal jemand mit ihm unterhalten. Wieso haben sie alle so viel Angst? Wir sind hier schließlich in England, Herrgottnochmal.»
Lina legte einen Finger auf ihre Lippen. Ein untersetzter Iraker näherte sich dem Tisch, an dem sie saßen. «Nicht jetzt», sagte sie. Ihre Augen waren feucht, aber das entging Hoffman.
Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr. «Okay. Aber ich möchte, dass Sie mir nachher erzählen, warum hier alle so viel Angst haben.»
Lina schloss die Augen. Eine Träne lief ihr die Wange herunter. «Ich muss gehen», sagte sie eilig und stand auf. Endlich merkte Hoffman, dass sie weinte.
«Oh, das tut mir leid.» Er reichte ihr ein Taschentuch. Sie trocknete sich die Augen und putzte sich die Nase. «Geben Sie mir noch eine Chance?»
Sie schüttelte wieder den Kopf. «Nein.»
Hoffman sah gekränkt aus. Sie lehnte sich zu ihm herüber und flüsterte ihm zu: «Man darf uns nicht zusammen weggehen sehen. Das könnte mich in Schwierigkeiten bringen.»
«Dann warte ich draußen auf Sie. Ich bin mit dem weißen BMW hier, der fünfzig Meter weiter die Straße hinunter parkt. Ich warte eine halbe Stunde.»
«Ich muss gehen», sagte sie wieder und zog sich von ihm zurück. Sie schüttelte ihm steif die Hand, wandte sich um und hielt nach ihrer Freundin Randa Ausschau.
Fünfundzwanzig Minuten später ging Lina zur Haustür und warf Salwa Darwish zum Abschied eine unaufrichtige Kusshand zu. Sie fand Hoffman genau dort, wo er gesagt hatte: in seinem Wagen sitzend mit einer Zigarette.
«Geben Sie mir auch eine», sagte sie. «Jetzt erzähle ich Ihnen von Jawad.» Sie sah weniger verängstigt aus als vorher, aber nicht weniger schön.
«Ist schon gut. Das brauchen Sie nicht. Tut mir leid, dass ich vorhin so neugierig war.»
«Nein, ich will es, jetzt, wo wir allein sind. Dann verstehen Sie vielleicht, warum alle so viel Angst hatten. Nabil Jawad war unser Nationaldichter. Er schrieb über die Matrosen von Basra und über die
ma’aden
, die Leute, die in den Sümpfen wohnen, und über die kurdischen Krieger in den Bergen bei Mossul. Das ganze Land hat ihn geliebt. Aber dann ist er in die Klauen des Terrors geraten.»
Hoffman nickte, merkte aber, dass er nicht verstand. «Was ist mit ihm passiert?»
«Er wurde vor zehn Jahren in Bagdad verhaftet, nachdem er ein paar regimekritische Gedichte verfasst hatte. Die Gedichte waren sehr subtil, aber er hat sich darin über den Herrscher lustig gemacht, und das fanden sie unverzeihlich.»
«Wie hat er sich über ihn lustig gemacht?»
«Mit Wortspielen zum Beispiel. An eines erinnere ich mich noch. Mit dem Wort
jayyed
, das ‹gut› heißt. Das ist das Lieblingswort des Herrschers. Er benutzt es unentwegt, so wie hier jemand sagen würde: ‹Also gut.› Und so hat Jawad in einem seiner Gedichte einen Dorftrottel ständig
‹jayyed›
sagen lassen. Das hat ihnen nicht gefallen.»
«Was noch, erinnern Sie sich noch an
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