Blutgeld
Kino der Lügen, das jede Bewegung, die er machte, jedes Flüstern, das er von sich gab, aufzeichnete. Sein Porträt war ehrfurchtsvoll an der Wand jeder Wohnung, jedes Ladens, jeder Schule und jedes Büros im Land aufgehängt worden. Der Herrscher war so allgegenwärtig und unentrinnbar wie die Strahlen der Sonne gewesen, und jetzt war er nicht mehr da.
Die zweite Reaktion war Wut. Als Erstes verschwand das riesige Porträt des Herrschers in seiner Militäruniform, das den größten Platz in Bagdad beherrschte. Als sich die Nachricht verbreitete und die geistigen Fesseln allmählich abfielen, versammelte sich vor Mitternacht eine Menschenmenge. Die erste mutige Seele wagte es, einen Felsbrocken gegen das riesige, vier Stockwerke hohe Porträt zu werfen. Er prallte von der Plakatwand ab, ohne Schaden anzurichten. Da verstummte die Menge plötzlich. Er war unverwundbar! Er lebte! Die Angst kehrte vorübergehend wieder, und die Menge wich zurück. Dann aber stürmte ein anderer Mann, offenbar mutiger als die anderen, aus den zurückweichenden Menschen hervor und schleuderte mit einem Schrei eine mit Benzin gefüllte Flasche gegen das Bild des Herrschers. Sie schlug in der Nähe seiner Uniformepaulette auf und brach in Flammen aus. Eine weitere Benzinbombe flog über die Köpfe der Menge hinweg und zerplatzte am Kinn des Herrschers und dann noch eine und noch eine, bis das Bild des Herrschers an einem Dutzend Stellen brannte und der ganze Platz wie von Fackeln erleuchtet war.
«Hajiz al-Khawf inkiser»
, riefen sie einander zu.
Die Schranke der Angst ist durchbrochen.
Die Menge rückte wieder vor, kochte vor Wut wie eingesperrte Tiere, die plötzlich, im Augenblick ihrer Befreiung, vor Raserei die Zähne fletschen. Brodelnd stürmten sie auf das Bild des Herrschers zu, wie ein einziger Körper, rammten die Holzverstrebungen nieder, die das riesige Bild stützten, und schlugen mit Äxten, Schaufeln und Spitzhacken auf das Fundament ein, rissen es mit seinen Wurzeln aus. Ein großer Lastwagen kam plötzlich auf den Platz gefahren und steuerte auf die riesige Plakatwand zu, rammte sie frontal, wieder und immer wieder, bis sie schließlich zu einem lodernden Scheiterhaufen mitten auf dem Platz einstürzte.
Diese flammende Entweihung des Herrschers entfachte nur noch mehr Wut in der Menge. Sie stürmte zum nächsten Platz, auf dem ein anderes Porträt des Herrschers stand; diesmal war er im Aufzug eines arabischen Reiters zu sehen. Wieder flogen die Benzinbomben über die Menge und setzten das Bild in Flammen. Und wieder rammte ein Lastwagen die brennende Plakatwand, bis sie in sich zusammenbrach. Bei Tagesanbruch stand kein einziges Bild des Herrschers mehr, von denen es in der Stadt so viele gegeben hatte, wie es Verkehrsampeln gab.
In dieser ersten Nacht des Wütens kam niemand darauf, sich zu fragen, wo die Benzinbomben eigentlich hergekommen waren. Oder wer die Freudenschüsse in den Straßen abgegeben hatte. Oder wieso die riesigen Lastwagen gerade im richtigen Augenblick zur Stelle waren, um das Werk der Zerstörung zu vollenden. Das waren Fragen, die sich nüchtern denkende Menschen gestellt hätten. Aber in jener rauschhaften Brandnacht, als die Vergangenheit in Flammen aufging, stellten sich die wenigsten Irakis Fragen. Wo waren die Kader der Geheimpolizei, die in jeder anderen Nacht den Menschen einen Dolch an die Kehle gehalten hätten? Oder das Heer von Informanten und Provokateuren? Der Irak hatte vier Geheimdienste, jeder von einem rivalisierenden Mitglied der Herrscherfamilie kontrolliert, jeder den anderen bespitzelnd, während er gleichzeitig das irakische Volk bespitzelte. Wo waren sie in dieser Nacht? Welche versteckten Hebel betätigten sie? Wer gab die Befehle aus, in den Kasernen zu bleiben oder durch die Straßen zu marschieren? In diesem Delirium schien das keine Rolle zu spielen. Den Herrscher gab es nicht mehr.
Früh am nächsten Morgen saß ein Mann auf einer klapprigen Bank im Zawra-Park, ein Araber in den mittleren Jahren, dessen Gesicht von Aknenarben übersät war. Er trug eine Sonnenbrille, die sich wie eine Windschutzscheibe um seine Augen legte, und er hatte sich eine Lederkappe tief ins Gesicht gezogen. Nur ein sehr kenntnisreicher Beobachter des irakischen Hoflebens hätte in ihm den Cousin des toten Herrschers erkannt, Osman Bazzaz. Er saß auf der Bank, starrte gelegentlich zu dem verglasten Restaurant hoch, das als Bagdad Tower bekannt war und sich wie ein bunter
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