Blutgesicht
Spannung in und auf ihrem Körper. Das Kribbeln war in ihr und lag zugleich auf ihrer Haut. Nichts malte sich hinter der Scheibe ab. Auch am zweiten Fenster des Zimmers nicht. Nur die normale Dunkelheit lag dort draußen und drückte gegen das Glas.
Jane Collins wollte es trotzdem genauer wissen. Es gab Situationen, da war sie einfach nicht zu halten, deshalb trat sie an eines der Fenster heran und öffnete es.
Die Luft war wie ein Eishauch, der sich für einen Moment auf ihrer Haut festsetzte. Sie holte tief Luft, sie schmeckte die Kälte in ihrem Mund. Ihr Blick bohrte sich in die Dunkelheit hinein, weil sie auf der Suche nach dem Blutgesicht war.
Sie sah es nicht.
Dafür hatte die Luft etwas mehr Feuchtigkeit bekommen. Sie wiederum lag wie ein feiner Nebel über den Dächern, als hätte er sich daran festgeklammert.
Obwohl sie fror, blieb sie stehen und flüsterte in die Dunkelheit hinein: »Ich weiß, daß du da bist, Nathan. Ich weiß es genau, verdammt genau sogar. Ich sehe dich nicht, aber vielleicht siehst du mich. Es ist alles klar zwischen uns, Nathan. Ich habe dich verstanden, und ich werde dich besuchen.«
Nach diesem Versprechen schloß sie das Fenster, drehte sich um und ging zu ihrem Bett. Jane entkleidete sich. Ihre Bewegungen wirkten dabei langsam, und die Augen hatten einen nachdenklichen und in sich gekehrten Blick bekommen. Jane war mit ihren Gedanken nicht in der Gegenwart, sie dachte mehr an die Zukunft und an die Zeit des Tages, wenn es draußen hell geworden war.
Sie legte sich ins Bett und blieb auf dem Rücken liegen. Die Augen zur Decke gerichtet.
Müde war sie nicht, aber sie schlief trotzdem ein. Für sie war es kein gesunder Schlaf, weil er ständig von einem einzigen Traum durchdrungen wurde.
Sie sah Nathan Lassalle.
Und sein Gesicht blutete dabei noch stärker…
***
London lag unter einer Kältedecke. Auf vielen Dächern klebte noch die Eisschicht wie eine zweite Lackierung. Die Fahrer und Fahrerinnen hatten nur für freie Scheiben gesorgt. Jane Collins dachte daran, daß auch sie hatte kratzen müssen, und sie war dabei von Sarah Goldwyn beoliachtet und angesprochen worden.
Die Horror-Oma hatte versucht, sie zurückzuhalten. Sie wollte nicht, daß Jane losfuhr und hatte sie immer wieder darauf hingewiesen, daß dieser Nathan Lassalle gefährlich war. Zumindest für Jane.
Die Detektivin hatte sich nicht beirren lassen und immer wieder den Kopf geschüttelt. »Ich werde fahren, Sarah, weil ich einfach fahren muß.«
»Warum denn?«
»Ich habe es ihm versprochen. Er will mir seine Bilder erklären, Sarah. Ist das so schlimm?«
»Bei einem Mann wie ihm schon.«
»Nein, er ist…«
»Ich habe ihn gesehen, Jane. Wir alle haben ihn gesehen. Keiner von uns hat ihn sympathisch gefunden. Das solltest du dir auch mal vor Augen halten.«
»Es ist einzig und allein meine Sache, was ich tue oder lasse.«
»Und an deinen Traum denkst du nicht mehr?«
»Doch.«
»Aber?«
»Es war nur ein Traum, Sarah. Nur ein Traum. Nicht mehr. Das mußt auch du begreifen.«
Die Horror-Oma seufzte. »Ich weiß. Ich kenne dich. Ich habe oft genug erlebt, daß man dich nicht zurückhalten kann, wenn du dich irgendwo festgebissen hast. Aber du solltest in diesem Fall nicht allein fahren und für einen gewissen Schutz sorgen. Nimm dir jemand mit, Jane, tu dir selbst den Gefallen.«
Sie winkte ab. »Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln. Ich habe meinen Weg bisher allein gefunden und auch schon sehr Schlimmes erlebt. Da brauche ich nur an Doriel zu denken.«
»Den du auch nicht allein geschafft hast, Jane!«
Die Detektivin stand neben der Fahrerseite des Wagens. Holte schnaufend Luft. Ihre Augen nahmen dabei fast die gleiche Farbe an wie das Eis in den Rinnsteinen. »Hör auf. Ich fahre jetzt, und damit ist für mich das Thema erledigt.«
»Ja, fahr ruhig, entschuldige…«
Danach hatte Sarah nichts mehr gesagt, aber Jane gingen die Worte nicht aus dem Kopf. Sie mußte immer daran denken, und sie konnte die Horror-Oma auf der einen Seite auch verstehen. Auf der anderen aber war sie kein kleines Kind mehr. Sie würde weitermachen. Sie würde sich nicht von einem Besuch abbringen lassen. Dazu war die Botschaft zu stark gewesen.
Der Verkehr in London war an diesem Samstag nicht so dicht. Hinzu kamen die starken Minustemperaturen und ein leichter Wind, der die Kälte noch stärker in den Keller trieb.
Ihr Ziel war ein bestimmtes Gebäude. Es nannte sich das Haus der Galerien. Sponsoren
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