Blutgier - Ein Alex-Delaware-Roman 21
Zeit zum Arbeiten?«
»Als Vorschulerzieherin, einen halben Tag lang. Was mit ihr geschehen ist, ist furchtbar. Lag es daran, wie sie lebte?«
»Was meinen Sie damit, Ma’am?«
»Ich will sie nicht beleidigen, aber wir leben auf eine Art, und sie leben auf eine andere.«
»Sie?«
»Die Außenwelt.« Shayndie Winograd wurde rot. »Ich sollte nicht so reden. Mein Mann sagt, jeder Mensch sollte auf seine eigenen Handlungen achten, nicht darauf, was andere tun.«
»Ist Ihr Mann Rabbi?«
»Er hat die smicha - er ist Rabbi, aber er arbeitet nicht als Rabbi. Den halben Tag macht er Buchführung, den Rest der Zeit lernt er.«
»Was lernt er?«
Shayndie Winograd lächelte wieder. »Die Thora, Judaismus. Er geht auf ein kollel - das ist so was wie ein Graduiertenstudium.«
»Arbeitet für einen höheren Abschluss«, sagte Milo.
»Er lernt um des Lernens willen.«
»Ach … jedenfalls klingt es so, als hätten Sie beide alle Hände voll zu tun … Dann erzählen Sie mir doch von Michaela Brands Lebensstil.«
»Der war ganz normal. Wie der amerikanische Lebensstil jetzt aussieht.«
»Soll heißen?«
»Enge Kleidung, kurze Röcke, die ganze Zeit aushäusig.«
»Mit wem ist sie ausgegangen?«
»Der Einzige, den ich gesehen habe, war der auf dem Bild. Manchmal ist sie allein ausgegangen.« Shayndie Winograd blinzelte. »Ein paarmal haben wir uns gegrüßt. Sie hat gesagt, meine Kinder wären süß. Einmal hat sie Chaim Sholom - meinem Sechsjährigen - einen Schokoladenriegel angeboten. Ich hab ihn genommen, weil ich sie nicht beleidigen wollte, aber er war nicht koscher, deshalb hab ich ihn einer Mexikanerin gegeben, die in der Tagesstätte arbeitet … sie hat die Kinder immer angelächelt. Schien eine nette junge Frau zu sein.« Ein tiefer Seufzer. »So schrecklich für ihre Familie.«
»Hat sie jemals über ihre Familie geredet?«
»Nein, Sir. Wir haben nie ein richtiges Gespräch geführt, nur guten Tag gesagt und gelächelt.«
Milo steckte sein Notizbuch weg. Er hatte nichts hineingeschrieben. »Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir erzählen können, Ma’am?«
»Was zum Beispiel?«
»Was Ihnen in den Sinn kommt.«
»Nein, das ist es«, sagte Shayndie Winograd. Dann wurde sie wieder knallrot. »Sie war wunderschön, aber sie hat mir leidgetan. Weil sie so viel von … sich selbst gezeigt hat. Aber sie war nett, hat die Babys angelächelt, und einmal hab ich sie eins halten lassen, weil ich in das Auto einstieg und eine Menge Pakete dabeihatte.«
»Also hatten Sie keine Probleme mit ihr?«
»Nein, nein, ganz und gar nicht. Sie war nett. Sie hat mir leidgetan, das ist alles.«
»Warum?«
»Weil sie allein lebte. All das Ausgehen. Die Leute denken, sie können ausgehen und alles tun, was sie wollen, aber die Welt ist gefährlich. Das hier ist der Beweis, nicht?«
Aus einem Schlafzimmer erklang Geschrei. »Oh-oh.« Wir folgten ihr in einen neun Quadratmeter großen Raum, in dem zwei Kinderbettchen standen. Die Insassen waren ein Paar Säuglinge, purpurrot vor Entrüstung und, dem Geruch nach zu schließen, mit schmutzigen Windeln. Gershie Yoel hüpfte auf und ab wie ein Slinky-Spielzeug und versuchte, seiner Mutter Kopfstöße zu versetzen, während sie die Windeln wechselte.
»Hör auf damit! Diese Männer sind Polizisten, und wenn du dich nicht benimmst, können sie dich wie Yussuf Avinu ins Bejs Hasobar stecken.«
Der kleine Junge knurrte.
» Bejs Hasobar , ich meine es ernst, mein lieber Junge.« Zu uns gewandt: »Das ist das Gefängnis. Yussuf - das ist Josef aus der Bibel - ist da gelandet, sieben Jahre lang, bis der Pharao ihn rausgeholt hat.«
»Was hat er gemacht?«, fragte Milo.
»Nichts«, sagte sie. »Aber er ist angeklagt worden. Von einer Frau.« Sie rollte eine schmutzige Windel zusammen und wischte sich die Hände ab. »Schlimme Dinge. Selbst damals hat es schlimme Dinge gegeben.«
Milo hinterließ seine Karte vor den anderen Apartments. Als wir im Erdgeschoss ankamen, verteilte der Postbote Briefumschläge.
»Tag«, sagte Milo.
Der Briefträger war ein grauhaariger Filipino, klein und zierlich. Sein Lieferwagen vom U.S. Postal Service war am Bordstein geparkt. Mit der rechten Hand hielt er einen von mehreren Schlüsseln an einer Kette, die an seinem Gürtel befestigt war, während die linke gebündelte Briefe gegen seine Brust presste.
»H’lo«, sagte er.
Milo zeigte seinen Ausweis. »Wie sieht es mit dem Briefkasten Nummer drei aus?«
»Was meinen Sie
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