Blutgrab
Häuser. In den hohen Fenstern und Erkern brannte bereits Licht; die Menschen bereiteten sich auf einen erholsamen Feierabend im Kreise ihrer Familie vor.
Familie, das gab es in Gisela Brabenders Leben nicht mehr. Ihre Eltern hatten den Kontakt zu ihr abgebrochen, als sie in das Haus eines Mannes gezogen war, der ihr Vater hätte sein können und zudem über mehr Reichtum verfügte, als es ihre Familie sich jemals erträumt hatte. Nun war sie die Frau an der Seite von Georg Brabender - begonnen hatte sie als Studentin, die stundenweise in seinem Laden ausgeholfen hatte.
Darin war alles ganz schnell gegangen - offenbar hatte sich Brabender damals in die jüngere Frau verliebt, und sie hatte sich zu ihm hingezogen gefühlt, was aber nichts mit seinem gesellschaftlichen Status zu tun gehabt hatte: Georg war reifer gewesen als die Männer in ihrem Alter. Er hatte die Souveränität und Gelassenheit ausgestrahlt, die sie sich schon als junges Mädchen von ihrem Mann gewünscht hatte. In seiner glitzernden Welt hatte es keine Probleme gegeben, er war angesehen und wohlhabend. Die oberen Zehntausend der Stadt gehörten zu seinen Kunden, und nichts und niemand zweifelte an Georg Brabenders ausgezeichnetem Ruf.
Nur ihre Eltern, die hatten von der ersten Minute an ein Problem mit einem Schwiegersohn in ihrem Alter gehabt. Doch darauf hatte Gila damals keine Rücksicht genommen, und als ihr der Arzt eine Schwangerschaft attestierte, ließ sich Georg nicht mehr davon abhalten, das Aufgebot zu bestellen.
Es hatte eine Märchenhochzeit im Rittersaal von Schloss Burg gegeben - zahlreiche berühmte Menschen hatten auf der Gästeliste gestanden, und nach dem rauschenden Fest waren sie in traumhafte Flitterwochen auf den Malediven gestartet.
Die Fehlgeburt hingegen war ein herber Rückschlag gewesen: Sie war kurz nach ihrer Heimkehr von der Hochzeitsreise im Haus gestürzt.
Damals war eine Welt für sie untergegangen, und seitdem war sie nicht mehr schwanger geworden. Als Georg bemerkte, dass all ihre Bemühungen um Nachwuchs nicht fruchteten, wendete er sich von seiner Frau ab. Er degradierte Gisela als Vorzeigeobjekt an seiner Seite. Anfangs hatte sie um seine Gunst gebuhlt, sie hatte ihn verführt, für ihn gekocht und mit zahlreichen kleineren und größeren Aufmerksamkeiten um ihre Liebe gekämpft. Leider vergeblich, Georg besann sich auf seine Tätigkeit als namhafter Juwelier, der neben dem Geschäft eine Menge gesellschaftlicher Interessen verfolgte. Für eine gut funktionierende Ehe und Nachwuchs gab es keinen Platz mehr in seinem Leben.
Dann kam der Tag des Überfalls, der Gila nachhaltig traumatisierte. Anfangs hatte sie die Hoffnung gehabt, seine Zuneigung ein Stück weit zurückzugewinnen - vergeblich: Er drückte sein Mitgefühl aus, indem er sie zu einem Psychologen schickte, mit dem ihm seit Jahren eine innige Männerfreundschaft verband.
Dass Georg sie betrog, lag auf der Hand für Gila. Seit fast zwei Jahren hatte er sie nicht angefasst. Sie schliefen nicht mehr miteinander, und mittlerweile hatte sie sich ihrem Schicksal gefügt und das Kämpfen aufgegeben. Inzwischen bereitete ihr der Gedanke, den dick gewordenen und schwitzenden Georg auf ihrem zierlichen Körper zu spüren, sogar Ekel. Allein die Erinnerung an sein lüsternes Keuchen an ihrem Ohr ließ sie erschaudern.
Vielleicht war es gut, wie es gekommen war. Sie zog den Nutzen aus ihrer Ehe, die nur noch auf dem Papier bestand, genoss den materiellen Reichtum und das lieben in einem im Grunde genommenen viel zu großen Haus. Irgendwann würde sie ausziehen. Dass sie Brodie mitnehmen würde, war selbstverständlich. Der Hund war ihr Freund, und sie war für den stattlichen Berner Sennenhund zur Bezugsperson geworden.
Ein Auto näherte sich von hinten. Wahrscheinlich wieder ein Mensch aus der Gegend, der gerade nach einem langen Arbeitstag zu seinen Lieben kam.
Gisela Brabender seufzte, blickte zu Brodie und zupfte kurz an der Leine. Brav trottete er neben ihr her. An der Einfahrt zu einem Grundstück blieb er erneut stehen und schnüffelte.
Der Wagen näherte sich langsam. Die Lichtlanzen der Scheinwerfer strichen über den Bürgersteig. Brodie war stehen geblieben und blickte sich um. Auch der Wagen schien nun zu stehen. Der Motor brummelte im Leerlauf wie eine zum Sprung bereite Raubkatze.
»Komm schon«, sagte Gila und zupfte erneut an der Leine. »Du blockierst den Weg, da will jemand nach Hause, also mach die Einfahrt frei, wenn du nicht
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