Blutheide
scheitert
Wer vieles sühnen will
der sühnt nur weniges
Wer weniges sühnen will
der sühnt gar nichts
Wer nur sühnen will
was sich sühnen lässt ohne Schaden …
… sorry, weiter komm ich nicht, aber ich glaub, das könnte passen, oder?«
Tobias konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, als er in Katharinas völlig verwundertes Gesicht sah.
»Ähm … was war das jetzt gerade?« Katharina sah ihn fragend an. Noch während Tobias sprach, hatte sie seine Worte auf dem Zettel verfolgt und die zwei Zeilen passten hundertprozentig. Es waren die Zeilen, mit denen Tobias begonnen hatte.
»Wieso weißt du, was auf diesem dämlichen Zettel steht, obwohl du ihn noch gar nicht in der Hand hattest, während ich mir hier seit Stunden den Kopf zermartere? Und was ist mit dem Rest, den du dann noch dazu gereimt hast?«
»Das is ’n Gedicht von Erich Fried, wenn mich nicht alles täuscht. Ich krieg nur gerade das Ende nicht zusammen. Aber wenn du sagst, dass das, was du da auf deinem Zettel stehen hast, passen könnte, ist es ein Leichtes, das komplette Gedicht zu googeln.«
Tobias drehte sich bereits in Richtung seines Schreibtischs, um am Computer den noch fehlenden Text zu recherchieren, als Katharina ihn aufhielt.
»Stopp, Kollege – so geht das jetzt gar nicht! Erstmal bekomme ich eine Erklärung, warum jemand wie du mal eben so aus dem Effeff ein Gedicht rezitiert, nachdem ich einfach nur ein paar Worte in den Raum gemurmelt hab!«
Tobias spielte Entrüstung: »Was heißt denn hier ›jemand wie ich‹, bitte schön! Du hast ja offensichtlich einen tollen ersten Eindruck von mir!«
Katharina war nicht sicher, ob ihr neuer Kollege nur so tat oder wirklich eingeschnappt war, bis Tobias grinsend zugab: »Okay, zugegeben, ich seh sicher nicht gerade aus wie ein Literaturprofessor – zum Glück! Doch Kleider machen eben nicht immer Leute, werte Kollegin. Aber Spaß beiseite. Ich kenn mich da tatsächlich ein bisschen aus. Ist aber ’ne längere Geschichte, ich glaub, die sollten wir jetzt erstmal auf später verschieben. Lass uns lieber überprüfen, ob der Rest auch stimmt. Ich glaub, das Gedicht heißt ›Sühne‹. Gib doch einfach mal die erste Zeile ›wer alles sühnen will‹ bei Google ein.«
Katharina war bereits dabei und hatte auch sofort mehrere Treffer. Sie klickte gleich den ersten an.
»Da ist es:
Wer alles sühnen will
der scheitert
Wer vieles sühnen will
der sühnt nur weniges
Wer weniges sühnen will
der sühnt gar nichts
Wer nur sühnen will
was sich sühnen lässt ohne Schaden
der richtet nur noch größeren Schaden an
Vielleicht muss trotzdem gesühnt sein
aber nicht nur durch Sühne.
Ich fasse es immer noch nicht – das ist es tatsächlich!«
Katharina war zwar immer noch etwas perplex, aber die Freude überwog. Jetzt konnte es weitergehen. Obwohl – womit eigentlich? Der Tote hatte also einen Teil eines Gedichtes bei sich getragen – in einer versteckten Gürteltasche. Das half der Kommissarin, wenn sie ehrlich war, kein Stück weiter. Aber irgendwas war da … wenn sie bloß nicht solche Kopfschmerzen hätte! Plötzlich fiel es Katharina wie Schuppen von den Augen. Sie kramte auf ihrem Schreibtisch nach einer anderen Akte.
Tobias beobachtete die neue Kollegin skeptisch. »Alles klar mit dir, Kollegin?«
Doch Katharina hörte ihn gar nicht. Sie blätterte in der Akte, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte: »Da, da steht’s! Ich wusste doch, dass mir irgendwas bekannt vorkam. Hier guck mal, die junge Frau, die überfahren wurde. In ihrer Handtasche hat man einen kleinen Zettel mit ›irgendeinem Reim‹ gefunden. Er ist hier bei den Beweisstücken aufgeführt, den hat natürlich keiner weiter wichtig genommen. Aber zweimal hintereinander, das ist doch merkwürdig, oder nicht?«
Tobias begann gerade schmunzelnd über die ›unterschätzte Verbreitung kulturellen Gutes in Lüneburg‹ zu sinnieren, als sein Chef Benjamin Rehder mit der Jacke in der Hand in den Raum kam.
»Hi, Tobi, das passt ja bestens, dass du wieder da bist. Ich brauch euch beide – es wurde schon wieder eine Leiche gefunden.«
15.37 Uhr
Benjamin Rehder steuerte den Wagen in Richtung Heiligenthaler Forst. In wenigen Minuten würden sie dort eintreffen. Er war froh, dass Tobias wieder an Bord war. Auch wenn der junge Kommissar oft flapsig und unbekümmert wirkte, in ihm steckte ein guter Kriminalist, das hatte er in der Vergangenheit schon mehrfach bewiesen. Und bei drei
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