Blutheide
Mordfällen innerhalb weniger Tage konnte Benjamin jeden Mann gebrauchen. Okay, auch jede Frau. Bei der neuen Kollegin war er allerdings nach wie vor unsicher, wie er sie einschätzen sollte. Dafür war es noch zu früh. Er hatte sich vorgenommen, ihr möglichst vorurteilsfrei eine reelle Chance zu geben, so wie er es auch mit Tobias gehalten hatte, als dieser vor ein paar Jahren in seine Abteilung gekommen war.
Er musste an Benedict denken. Auch sein Zwilling sollte die Möglichkeit bekommen zu zeigen, dass er sich wirklich geändert hatte. Bei ihrem Gespräch am Mittag hatte Benjamin ihm abgenommen, dass Bene es ernst meinte. Vielleicht war das tatsächlich die Möglichkeit für einen Neuanfang zwischen ihnen. Privaten Stress konnte der Kommissar gerade im Moment nicht gebrauchen. Nicht noch mehr, als er sich selbst schon machte.
Benjamin wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Katharina ihn von der Rückbank aus ansprach: »Ben, ich konnte den Text auf dem Zettel entziffern, den wir bei der Hotelleiche gefunden haben. Oder besser gesagt, wir konnten es. Ohne die Hilfe von Tobias hätte es wohl noch eine Weile gedauert. Es ist ein Gedicht von … Tobi, von wem noch mal?«
»Von Erich Fried. Es heißt ›Sühne‹«, ergänzte Tobias.
Benjamin sah den jungen Kollegen auf dem Beifahrersitz überrascht von der Seite an. »Dass du immer für ’ne Überraschung gut bist, ist mir ja nicht neu – aber Gedichte?«
»Ja ja, ist schon gut, ich erklär’s schon!« Tobias lachte. »Ist ’ne blöde Geschichte, aber wenn sie uns hier weiterhilft, war’s ja wenigstens für irgendwas gut. Also, es gab da mal ’n Mädchen, das ich auf Teufel komm raus beeindrucken wollte. Na ja, und Frauen und Gedichte … das kann ja grundsätzlich nicht schaden. Und die stand total auf so’n Kram. Also hab ich diverse Gedichte auswendig gelernt und bei passender Gelegenheit immer mal eingestreut.«
»Und, hat’s gewirkt?«, wollte Katharina schmunzelnd wissen.
»Na ja, am Anfang schon. Aber ich hab das Ganze dann noch toppen wollen und hab sie mit zu so ’nem Poetry Slam geschleppt. Was mir allerdings nicht klar war: Sie ging davon aus, dass ich mich da auf die Bühne stellen und eigene Gedichte präsentieren würde. Hab ich natürlich nicht, irgendwann is ja mal gut. Das kam schon nicht so gut an bei ihr. Stattdessen hat sie sich dann in so ’nen bärtigen Öko-Typen verknallt, der mutiger war als ich und schwülstig-schmutzige Liebesgedichte von der Bühne geträllert hat. Wahrscheinlich tingelt sie mit dem heute noch von einem Poetry Slam zum nächsten. Keine Ahnung, ich hab sie danach nicht mehr wiedergesehen.«
Benjamin musste lachen. Das war typisch Tobi. »Na, da können wir ja gespannt sein, was für ungeahnte Fähigkeiten noch auf uns warten, die du dir für solche Verführungsfälle antrainiert hast!«
»Hier war es auf jeden Fall Gold wert!«, warf Katharina ein. »Ich hab da übrigens eine Verbindung gefunden, stell dir vor, Benjamin …«
»Wir sind da, sorry, Katharina.« Benjamin hielt den Wagen auf dem Parkplatz am Waldrand an. Schon von Weitem konnten sie erkennen, dass die Spurensicherung bereits im Gang war. »Das besprechen wir später, okay? Jetzt gucken wir erstmal, was uns hier erwartet.«
Als die drei kurze Zeit später am Tatort eintrafen, sah Benjamin, wie Katharina sich Handschuhe überstreifte und gezielt auf die Leiche zuging. Sie ließ den Blick über den Körper der jungen Frau wandern, zu den aufgerissenen Augen, dem Seidenschal um ihren Hals, der ganz offensichtlich als Tatwerkzeug gedient hatte, und dann auf den Bund des hochgeschobenen Rocks, wo Benjamin aus der Entfernung nur einen kleinen weißen Gegenstand erkennen konnte. Er beobachtete, wie Katharina noch näher an die Tote herantrat, sich bückte und einen sorgfältig zusammengefalteten Zettel hervorzog. Sie blätterte ihn vorsichtig auf und machte den Eindruck, als sei sie nicht überrascht, sondern eher beunruhigt. Mit dem Zettel in der Hand wendete sie sich Benjamin und Tobias mit den Worten zu: »Das hatte ich befürchtet. Ganz offensichtlich haben wir es mit einem Serienmörder zu tun.«
16.00 Uhr
Benedict stand hinter der Bar des Hotels Heideglanz und ordnete die verschiedenen Flaschen im Regal. Er stellte sie so hin, dass die Etiketten akkurat nach vorn zeigten, damit die Gäste gleich sahen, was er ihnen zu bieten hatte. Dann machte er sich daran, die Cocktailzutaten und -gläser für den Abend vorzubereiten. Im Heideglanz
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