Blutheide
nicht stimmte. Der war so gut wie alle bisherigen auch. Sogar besser, da dieser Fall an sich mehrere Tage dauern musste und er ihn richtig würde auskosten können. Dies war auch der Grund, warum er ihn sich bis zum Ende aufbewahrt hatte, und die anderen vorher hatten stattfinden müssen. Dieser Fall würde die Krönung sein. Sein Lebenswerk vollenden. Aber die Besetzung war bis vor wenigen Stunden eben noch nicht vollkommen gewesen, und er wusste die ganze Zeit, dass sein bisher ausgegucktes Opfer nur die zweite Wahl war. Dabei war gerade die Besetzung so wichtig für sein Gesamtkunstwerk. Jetzt, seit vorhin, kannte er die richtige, und sie war noch besser, als er es sich je vorzustellen gewagt hätte. Und so naheliegend! Wahrscheinlich war er genau deshalb nicht von vornherein darauf gekommen. Bei diesem Gedanken durchfuhr ihn ein Schauer, und in seinem Magen begann es, wie in letzter Zeit so häufig, zu grummeln. Nicht unangenehm, sondern eher so wie damals, als er sich das erste und einzige Mal verliebt hatte. Es war schon lang her. Er war damals auf dem Zenit seiner Pubertät gewesen, hatte aber dieses Gefühl konservieren können. Wenn er es genau nahm, dann war er auch jetzt in einer Art verliebtem Zustand. Denn auf eigentümliche Weise, die ihm, bevor die Dinge ins Rollen gekommen waren und er sein Kunstwerk in Angriff genommen hatte, nicht bewusst gewesen war, verspürte er auch all seinen Opfern gegenüber eine besondere Zuneigung und Verbundenheit – selbst wenn er sie als Protagonisten ihres Alltags verabscheute. Doch letztlich waren sie es, durch die sein Leben erst einen Sinn bekam, weil er sich diese Menschen zu eigen machte. Zu seinen Geschöpfen. Er erinnerte sich noch genau an die Situation, in der er vorher gelebt hatte. Festgesteckt war. Solange er denken konnte. Vor seiner Komposition. Bis dahin hatte er sich einfach nur unfertig gefühlt. Halb. Andere Menschen hatten Seelenverwandte. Er hatte eben seine Opfermenschen, die ihm halfen, sich vollkommen zu fühlen. Dafür dankte er ihnen mit seiner ganzen, besitzergreifenden Liebe.
Er erhob sich von dem mausgrauen Sitzkissen, in das er sich erst vor wenigen Minuten hatte hinein sinken lassen, und hockte sich vor sein Sideboard, aus dem er den Schuhkarton mit den noch nicht eingeklebten Fotos zog. Es waren viele Fotos. Oft zeigten sie dasselbe Motiv und waren im Abstand von nur wenigen Sekunden nacheinander geschossen worden. Er hatte sie bewusst nicht auf einer CD abgelegt, sondern ausgedruckt. Ähnlich wie er E-Books nicht ausstehen konnte, mochte er es nicht, Fotos auf dem Computer anzuschauen. Er war ein sinnlicher Mensch. Er wollte die Dinge erspüren. Außerdem brauchte er sie später sowieso als Ausdruck, um die schönsten davon in sein Album einzukleben. Das machte er aber immer erst dann, wenn ein Werk abgeschlossen war. Am Ende würde er dann seine ganz persönliche Kunst-Enzyklopädie der perfekten Morde besitzen. Und die würde nachklingen. Das würde sein Vermächtnis für die Nachwelt sein.
Wie seine gesamte Wohnung war auch der Inhalt des Kartons penibel ordentlich. Die Fotos waren durch beschriftete Karteikärtchen getrennt und in Gruppen aufgeteilt. Außerdem waren sie innerhalb ihrer Gruppe chronologisch geordnet. So war es besser und er musste nie lang suchen. Er nahm die etwa 150 vorn stehenden Fotos von Lara Jüssen heraus und legte sie rechts neben sich, ohne sie weiter zu betrachten. Die Karteikarte, auf der säuberlich getippt ihr Name stand, zerknüllte er und schmiss sie wie ein Basketballspieler in den etwas entfernt am Schreibtisch stehenden Papierkorb. Treffer.
Er wendete sich wieder dem Karteikasten zu. Seine Hand griff schon nach den jetzt vorn stehenden Bildern, doch noch im Greifen hielt er plötzlich inne und betrachtete seine feingliedrigen Finger. Klavierspielerfinger hatte sie einst seine Mutter genannt – ein Grund mehr, weswegen er nie in Erwägung gezogen hatte, das Klavierspiel zu erlernen. Er beobachtete, wie seine Finger zitterten und bläulich waren vor Kälte, obwohl der gesamte Rest seines Körpers vor Hitze glühte. Schnell schaute er weg, doch ließ er seine Hand über dem Kasten schweben. Er war noch immer zu erregt, um sich seiner Müdigkeit hinzugeben. Auch konnte er in diesem Moment nicht einfach sein übliches Programm abspulen und seinen als Nächsten anstehenden Fall gedanklich mit in den Schlaf nehmen, um sich darauf vorzubereiten. Er wusste: Wenn er jetzt bereits die Fotos mit seinem
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