Blutheide
nächsten Opfer aus dem Karton holen würde, um sie sich anzuschauen, damit sie Einzug in seine Träume halten könnten, würde er in der Folge einen Fehler machen. Dafür kannte er sich selbst zu gut. Er war zu unkonzentriert, und immerzu schweiften seine Gedanken zu seiner Erleuchtung. Aber er hatte es ja auch nicht eilig. Er könnte ruhig ein paar Tage ins Land ziehen lassen, bis er sich wieder beruhigt hatte. Glücklicherweise hatte er damals – ganz am Anfang – bereits beschlossen, dass die Daten zu vernachlässigen seien. Als hätte er es geahnt. Dennoch, eines musste er jetzt noch tun, um diesen überaus erfolgreichen Tag gebührend abzuschließen. Er wendete sich wieder dem Fotokarton zu. Liebevoll, fast streichelnd, fuhr er von vorn bis ganz nach hinten über die eingereihten Fotos und nahm nun die hinten stehenden mitsamt ihrem Karteikärtchen heraus. Kurz schloss er die Augen, stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, öffnete seine Augen wieder, die bereits vom Fieber gerötet waren, stand auf, stellte sich vor den Papierkorb und ließ, ohne sie noch eines weiteren Blickes zu würdigen, die Bilder hinein gleiten. Die weggeschmissenen Fotos zeigten ein etwa siebenjähriges Mädchen mit rotblonden Zöpfen. Er würde diese Fotos nicht mehr brauchen. Genauso wenig, wie er die abgelichtete Siebenjährige noch brauchen würde. Endlich ließ er sich wieder in seinen Sitzsack fallen und schlief dort fast sofort ein. Das Fieber hatte endgültig von ihm Besitz ergriffen.
Ich ging übers Heidemoor allein,
Da hört ich zwei Raben kreischen und schrein;
Der eine rief dem andern zu:
»Wo machen wir Mittag, ich und du?«
»Im Walde drüben liegt unbewacht
Ein erschlagener Ritter seit heute Nacht,
Und niemand sah ihn in Waldesgrund,
Als sein Lieb und sein Falke und sein Hund.
Sein Hund auf neue Fährte geht,
Sein Falk’ auf frische Beute späht,
Sein Lieb ist mit ihrem Buhlen fort –
Wir können in Ruhe speisen dort.
Du setzest auf seinen Nacken dich,
Seine blauen Augen, die sind für mich,
Eine goldene Locke aus seinem Haar
Soll wärmen das Nest uns nächstes Jahr.
Manch einer wird sprechen: Ich hatt’ ihn lieb!
Doch keiner wird wissen, wo er blieb,
Und hingehn über sein bleich Gebein
Wird Wind und Regen und Sonnenschein.«
(Theodor Fontane)
Kapitel 4: Mittwoch, 04. Mai 2011
07.30 Uhr
Benjamin stand vor seinem Schreibtisch im Kommissariat und starrte auf die gläserne Trennwand zum Nebenbüro. Er war schon seit sechs Uhr im Präsidium und hatte die Fotos und Fakten der drei Mordfälle an die Scheibe geklebt. Jetzt, da sie davon ausgingen, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun hatten, mussten sie versuchen, die Verbindungen zu finden. Wie Katharina es gestern schon gesagt hatte, glaubte auch er nicht daran, dass die Befragung der Angehörigen sie wirklich weiter bringen würde, zumal die Identität des Mannes, den sie aus dem Wasser gefischt hatten, noch immer nicht geklärt war. Sie mussten selbst den Schlüssel finden. Hier im Kommissariat.
Die drei Tathergänge und auch die Opfer selbst hatten vordergründig keinerlei Gemeinsamkeiten. Auch der Abgleich der Wohnadressen der zwei bereits identifizierten Leichen ließ keinen Zusammenhang erkennen. Einzig und allein die Gedichtzeilen wiesen auf denselben Täter in allen drei Fällen hin.
Katharina hatte gepunktet, das musste Benjamin sich eingestehen. Ihre Qualität als Ermittlerin war zurzeit nicht infrage zu stellen. Doch alles andere würde sich zeigen müssen. Er merkte, wie er gedanklich abdriftete, an den vergangenen Abend in der Hotelbar und an seinen Bruder dachte. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Gleich würde sein Chef, Stephan Mausner, eintreffen, und dann wollte Benjamin ihn über die neuesten Vermutungen informieren. Lieber wäre es ihm allerdings gewesen, er hätte schon klare Ergebnisse vorzuweisen.
Im Nebenbüro hinter den Fotos an der Glasscheibe tauchte Katharina auf. Sie sah auf die beklebte Scheibe und steckte kurz darauf den Kopf durch die Tür zu Bens Büro.
»Morgen, Ben. Gibt es schon neue Ergebnisse?«
»Hallo, Katharina. Nein, ich hab weder aus der KTU noch von der Spusi bisher was Neues auf dem Tisch. Aber ich muss jetzt auch gleich erstmal zu Mau… zum Chef, um ihm von unserer Vermutung, dass es sich um einen Serientäter handeln könnte, zu berichten. Vielleicht sind die Kollegen danach schon weiter.«
Katharina war bereits wieder auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch, als sie sich noch einmal
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