Blutheide
Sie sagt, sie ist Polizistin und wird uns sicher helfen können. Nicht wahr?«
Juliane schaute Katharina mit einem flehenden Blick an. Dann wanderten ihre Augen auffordernd zurück zu Yvonne. Lauras Mutter war jedoch allem Anschein nach nicht in der Lage, mehr zur Situation zu erklären. Sie schluchzte auf und verließ das Wohnzimmer in Richtung Bad, wie Katharina vermutete. Etwas irritiert war sie darüber schon, denn das Verhalten erschien ihr extrem panisch für den jetzigen frühen Zeitpunkt. Doch Julianes Worte erklärten die Reaktion der jungen Mutter sofort: »Yvonne ist Witwe. Ihr Mann ist vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Na ja, und jetzt hat sie natürlich umso mehr Angst um Laura.«
»Das verstehe ich vollkommen«, erwiderte Katharina und musste schlucken. Dann war sie wieder ganz Polizistin: »Aber jetzt erzählt mir doch bitte erst einmal, was überhaupt passiert ist, okay?«
Bereits wenige Minuten später konnte Katharina sich ein besseres Bild von der Lage machen. Leonie und Laura waren nach der Schule wie immer ein Stück ihres Heimweges zusammen gegangen und hatten sich dann in der Großen Bäckerstraße getrennt. Leonie musste rechts herum, um dann etwas später links in die Münzstraße einzubiegen. Laura ging die Große Bäckerstraße links entlang in Richtung Bardowicker Straße, wo sie mit ihrer Mutter in einem Mehrfamilienhaus neben der Tankstelle wohnte. Die Mädchen hatten sich wie üblich – so hatte Leonie es ihrer Mutter geschildert – noch zugewunken und sich für den Nachmittag zum Spielen bei Leonie verabredet. Als Lauras Mutter um 15:00 Uhr von der Arbeit gekommen war, hatte sie eine leere Wohnung vorgefunden. Normalerweise saß Laura am Küchentisch und machte dort ihre Hausaufgaben. Oft ging sie auch direkt nach der Schule mit zu Leonie, aber nie, ohne das vorher mit ihrer Mutter abzusprechen. Yvonne hatte spontan gedacht, sie hätten sich vielleicht missverstanden, doch als sie bei Juliane anrief, um zu fragen, ob Laura dort sei, musste sie mit Erschrecken feststellen, dass hier mehr als ein simples Missverständnis vorlag. Sie hatte sofort bei anderen Freundinnen von Laura angerufen, doch niemand hatte sie nach der Schule noch gesehen. Daraufhin hatte Yvonne einen Zettel für Laura auf dem Küchentisch hinterlassen, falls sie dort auftauchen würde, und war dann im Laufschritt bei Juliane angekommen.
»Ist das schon mal vorgekommen, also ich meine, könnte es vielleicht sein, dass Laura weggelaufen ist?«, fragte Katharina vorsichtig.
»Nein, auf gar keinen Fall!« Yvonne kam gerade ins Wohnzimmer zurück und sah Katharina nicht unfreundlich, aber sehr bestimmt an. »Laura würde niemals einfach wegbleiben, ohne mir Bescheid zu geben. Und wir hatten auch keinen Streit, der ihr einen Grund zum Weglaufen gegeben hätte, falls das die nächste Frage gewesen wäre!«
Katharina wusste, dass Eltern diese Variante in der Regel immer zuerst abstritten, aber ihr Gefühl sagte ihr in diesem Fall, dass Yvonne weder log noch übertrieb. Sie schien sich absolut sicher zu sein, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen war.
»Katharina, wie geht es denn jetzt weiter?« Juliane sah ihre Nachbarin fragend an. »Gerade als du gekommen bist, wollte ich einen Freund anrufen, der bei der Polizei ist. Ben Rehder – vielleicht kennst du ihn ja.«
Katharina versuchte so gut es ging, ihre maßlose Überraschung zu überspielen: »Ja, könnte man sagen … er ist mein Chef. Ich werde ihn selbst informieren, okay? Eigentlich ist es für eine Vermisstenanzeige noch zu früh, aber in diesem Fall… Ich bin gleich wieder da.«
Mit diesen Worten stand sie auf und ging auf den Hausflur hinaus. Was war das wieder für ein merkwürdiger Zufall, dass Ben nun ausgerechnet ihre Nachbarin kannte? War Lüneburg so klein, dass hier jeder jeden kannte? Aber das sollte im Moment nicht ihre Gedanken blockieren. Sie wählte die Durchwahl ihres Chefs, der schon nach dem zweiten Klingeln am Apparat war: »Rehder, Kripo Lüneburg?«
»Ich bin es, Katharina. Pass auf, ich mache es kurz: Meine Nachbarin ist Juliane, du scheinst sie zu kennen. Sie hat eine Tochter, Leonie, und die beste Freundin von Leonie ist seit ein paar Stunden spurlos verschwunden. Was soll ich …?«
Ben ließ Katharina ihren Satz nicht beenden, sondern rief ihr ein schnelles »Ich bin gleich da!« entgegen und legte auf. Am anderen Ende der Leitung ließ er eine nun noch verwirrtere Katharina zurück, die sich fragte, ob
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