Blutheide
obwohl er sich natürlich, nachdem er das mit seinen Eltern wieder in die richtige Bahn gebracht hatte, mit Fried auseinandergesetzt hatte. Frieds andere Gedichte sprachen ihn überhaupt nicht an. Und genau aus diesem Grund war er sich sicher, dass es kein Zufall gewesen war, dass seine Mutter im entscheidenden Moment genau diese Zeilen so unermüdlich heraus posaunt hatte. Er nahm also Abstand von der Idee eines Lehrbuches. Denn nun wusste er es besser: Sein Buch musste eine neue Art Bibel werden, die ihm huldigte. Ihm, dem Meister, der über allen stand.
Die Alte hatte das hinterste Zimmer auf dem Flur des ersten Stockwerkes – die Junior-Suite. Er hatte es schon vor längerer Zeit für heute und morgen gebucht. Als er ihr davon erzählt hatte, war sie ganz aus dem Häuschen gewesen. Diese Närrin. Sie wollte es ihm in ihrer Blödheit einfach glauben, dabei hätte sie es sich doch an zehn Fingern abzählen können, dass er nie und nimmer ein Preisausschreiben so manipulieren konnte oder wollte, dass sie die Gewinnerin wäre – Dummheit schützte eben vor seiner Strafe nicht.
Auf seinem Weg durch das Hotel hatten ihm die wenigen Leute, die ihn sahen, kaum Beachtung geschenkt. Sicher – hinter seinem Rücken hatte die Tussi am Empfangstresen mit dem Portier getuschelt, als er gesenkten Hauptes an ihnen vorbei durch die Lobby zum Treppenhaus geschlurft war. Sollten sie! Ihn konnten sie nicht erkennen, die wenigen Wortfetzen, die an sein Ohr drangen, bestätigten das. Vielmehr verwechselten sie ihn mit der Alten. Sie mokierten sich über diese Frau, von der sie schon beim Schichtwechsel gehört hatten. Die so gar nicht dem Bild eines anständigen Heideglanz-Gastes entsprach und andere Gäste verprellen könnte. Aber auf der anderen Seite konnte es ihnen egal sein. Am Ende war sie ein zahlender Gast. So hielten sie ihn, in dem sie nur die abgewrackte Frau sahen, auch nicht auf und waren froh, dass die Treppenhaustür sich schnell hinter ihm schloss. Kurz bevor er die Tür aufstieß, konnte er es sich jedoch nicht verkneifen, seine Augen in Richtung Bar zu wenden, die von hier aus gesehen in der Flucht lag und freie Sicht direkt auf den Bartresen gewährte. Sein Blick fand sich direkt in den verhassten Augen dieses teuflischen Rehders wieder, der sich im ersten Augenblick ertappt zu fühlen schien, weil er die vermeintliche alte Frau beobachtet hatte. Dann setzte der zweite Rehder, wie er ihn für sich nannte, jedoch sein Profi-Schleimgesicht auf und schickte ein geflissentliches Kopfnicken Richtung Lobby.
Als er vor Zimmer 121 stand, lauschte er kurz. Er hörte nur die ihn umhüllende Stille, mit der er um diese Uhrzeit auch gerechnet hatte. Er machte das verabredete Klopfzeichen, und die Alte ließ ihn ein. Genauso, wie sie ihn früher schon in ihre eigene Einzimmerwohnung in der Sozialbausiedlung Kaltenmoor eingelassen hatte. Sie erkannte ihn sofort und war keineswegs über seinen Aufzug verwundert, denn er hatte ihn ihr angekündigt. Wie immer hatte er geplant, was geplant werden konnte, und sein Auftritt in der Verkleidung gehörte dazu. Er hatte der Alten erklärt, es müsste sein, damit er nicht erkannt würde. Wegen des Gewinnspiels. Er hatte ihr gesagt, dass die Hotelangestellten, würden sie ihn erkennen, Eins und Eins zusammenzählen könnten und dann wüssten, dass er das Gewinnspiel für sie manipuliert hatte. Die Folge wäre dann ein sofortiger Rausschmiss aus dem Hotel und er selbst wäre seinen Posten dann auch los. Die Alte hatte ihm geglaubt und keine weiteren Fragen gestellt. Er hatte es nicht anders erwartet. Schließlich hatte sie ja auch seine Manipulation am Gewinnspiel für bare Münze genommen.
Während er sich an ihr vorbeischob, atmete er den Geruch von billigem Parfüm und Alkohol ein. Er musste ein Würgen unterdrücken, denn mit diesem Geruch kamen zugleich Erinnerungen in ihm hoch, die er jetzt nicht gebrauchen konnte. Er musste einen klaren Kopf bewahren. Dass dies so schwierig war, hatte er nicht angenommen. Noch immer hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Erst als sie die Tür geschlossen hatte, sprach er sie an: »Und, schon eingelebt?«
»Na, Jungchen, was denkste denn? So feudal hatte ich es mein Lebtag nicht. Du musst dir mal das Badezimmer angucken. Ich hab vorhin erstmal ein Bad genommen. Da ist meine Dusche zu Haus ’n Dreck dagegen. Und guck mal, die haben hier sogar extra Puschen«, erwiderte sie und hob ihren langen Rock an, der dem seinen sehr ähnlich war.
Weitere Kostenlose Bücher