Blutheide
Umziehaktion sechs Minuten gekostet. Natürlich hatte er bereits geübt und auch überlegt, ob er sich nicht schon zu Hause umkleiden sollte, doch hatte er dies schnell wieder verworfen. Trotz der wirklich außerordentlich guten Verkleidung wollte er so nicht länger als unbedingt nötig auf der Straße herumlaufen. Darum hatte er sich für das Umziehen im Hauseingang entschieden, den er vorher überprüft hatte. Hier in der Gasse kam um diese Uhrzeit kaum jemand vorbei. Im Haus selbst wohnten lediglich drei Parteien. Es war eines der typischen Lüneburger Fachwerkhäuschen, die zuhauf dicht gedrängt und durch die unterirdischen Salinenbewegungen schief stehend in den engen kopfsteingepflasterten Gassen der Innenstadt zu finden waren. Der von ihm ausgewählte Hauseingang lag ein wenig zurückgesetzt und war nur durch eine spärliche Glühbirne beleuchtet, die er allerdings gleich nach seiner Ankunft mit dem um seine Hand gewickelten Handtuch zerdrückt hatte. Sicher war sicher. Als er sich nun wieder in Bewegung setzte, verrieten nur die auf den Boden gefallenen, spurenfreien Scherben sein kurzes Gastspiel an diesem Ort.
Er fühlte sich gut in den Frauenkleidern, und sie machten ihn tatsächlich auf den ersten Blick unkenntlich. Solange er mit niemandem auf seinem weiteren Weg sprechen oder ihn direkt anschauen musste, würde ihm bestimmt keiner auf die Schliche kommen. In andere Rollen zu schlüpfen, lag ihm einfach. Schon als Kind hatte er Fasching geliebt – nicht nur zur alljährlichen närrischen Zeit, die ohnehin in Norddeutschland gar nicht so zelebriert wurde wie anderswo. Er hatte sich verkleidet, wann immer sich ihm die Gelegenheit dafür bot. Allerdings hatte er seine Energie nie an einen Cowboy, Indianer oder dergleichen verschwendet, sondern sich in reale Personen aus seinem Umfeld hineinversetzt. Mal war er der nassforsche Postbote, mal die Nachbarin mit dem Hund, mal der Onkel, der – nachdem sein Vater die Flucht ergriffen hatte – immer den ersten Montagabend im Monat mit seiner Mutter verbrachte und ihm kaum in die Augen schauen konnte. Am liebsten aber hatte er sich heimlich in das mütterliche Schlafzimmer geschlichen, um dort die damals noch viel zu großen Frauenkleider aus dem Schrank zu holen und sich mit ihnen zu verkleiden. Er hatte sich dann vor den großen Schranktürspiegel gestellt und sich darin geübt, wie seine Mutter zu sein. Er hatte mit einem imaginären kleinen Jungen, der eben noch im gleichen Zimmer gewesen war, gezetert, ihn belehrt, mahnende Worte ausgesprochen oder einfach nur mürrisch und verletzt geguckt. Die noch vereinzelt im Schlafzimmerschrank hängenden Klamotten seines Vaters hatte er jedoch nicht angerührt. Diese Rolle hatte ihn nie interessiert.
23.56 Uhr
Katharina traute ihren Augen nicht. Sie stand versteckt hinter einem Baum und bemühte sich, auf keinen Ast zu treten und damit womöglich ein Knacken zu verursachen, das in der nächtlichen Stille sofort aufgefallen wäre. In einigen Metern Entfernung sah sie eine Hütte stehen, die durch eine Außenlampe in schummriges Licht getaucht war. Auf der kleinen Veranda konnte sie die Gestalt eines Mannes ausmachen, der sie von seiner Statur her an Maximilian erinnerte. Der Mann beugte sich über einen zweiten Körper, der auf dem Boden lag. Sie war der richtigen Spur gefolgt – das von ihr erstellte Profil hatte sich bestätigt! Wieder kam ihr Maximilian in den Sinn und ihr lief ein Schauer über den Rücken. Die Person auf dem Boden bewegte sich nicht, und Katharina konnte nicht erkennen, ob es sich um ein Kind, um Laura, handelte. Sie musste näher ran, doch das würde kaum geräuschlos funktionieren auf dem trockenen Waldboden. Aber sie wollte unbedingt das Gesicht des Täters sehen. War es wirklich Maximilian? Das konnte doch nicht sein! Maximilian saß in München im Gefängnis, wo er für seine grausige Tat büßte. Katharina merkte wie ihr Herz raste und der Atem schneller ging. Sie musste sich einfach überzeugen. Und sie musste wissen, wer da auf dem Boden lag, ob es sich um Laura handelte und sie das Mädchen noch retten konnte. Sie versuchte, sich im Dunkeln noch etwas besser zu orientieren, machte einen vorsichtigen Schritt vorwärts, dann noch einen und noch einen … Verdammt! Jetzt hatte sie doch einen trockenen Ast erwischt! Erschrocken verharrte sie in der Schwärze der Nacht und sah in Richtung Hütte, der sie nun zumindest ein paar Meter nähergekommen war. Auch der Mann schaute auf,
Weitere Kostenlose Bücher