Blutheide
sich wieder auf sein Fahrrad geschwungen hatte, um von der Laubenkolonie nach Hause zu fahren, hatte er nach wenigen Metern schon dieses schleichend hochkommende Gefühl in sich bemerkt. Mit jedem einzelnen Tritt in die Pedale hatte er sich besser gefühlt. Dann, als er zuhause angekommen war und sein Rad wieder im Keller verstaut hatte, konnte er kaum fassen, was mit ihm geschehen war: Er fühlte sich besser als die Stunden und auch Tage zuvor. Das kannte er nicht von sich und er nahm an, dass dies dem Glücksgefühl nahe kam, von dem er in Büchern gelesen und das er sich immer schon erhofft hatte. Ja, er war nicht weit davon entfernt, sich zu vervollkommnen. Natürlich, noch immer hatte er Fieber, doch jetzt konnte er es wieder genießen.
Sein Puls ging schneller, als er die Kellertreppe hochstieg, kurz aus seiner Wohnung seine bereitstehende Kamera sowie den fertig gepackten Rucksack holte und dann wenige Sekunden später die Stufen des Hausflurs wieder hinunter ging. Er trat durch die Haustür auf die Straße und schlug zu Fuß den Weg in Richtung Stint ein. Er wusste: Trotz der Hektik der vergangenen Stunden hatte er alles richtig gemacht. Nun würde ihn nichts mehr davon abbringen können, sein Gesamtwerk perfekt zu Ende zu bringen. Er war wieder in die Chronologie seines Plans eingetreten.
Am Stintmarkt angekommen, ging er nicht nach rechts in die Straße Bei der Abtsmühle hinein, um den Weg über die Brücke zum Hotel Heideglanz zu nehmen, sondern schlenderte gemächlich durch die Kneipenstraße. So, als wäre er ein interessierter Tourist, der es nicht eilig hatte und das pulsierende Treiben hier in dieser bekannten Straße in sich aufsog, um es mit nach Hause zu nehmen und den Bekannten und Freunden davon zu berichten. Er wollte von hinten, über den Fischmarkt, an das Hotel gelangen. Trotz der späten Stunde quoll der Stint noch immer über vor Menschen, sodass er nicht weiter auffiel. Hin und wieder machte er ein bekanntes Gesicht aus, doch niemand trat auf ihn zu oder begrüßte ihn gar, und wenn es nur mit einem Kopfnicken gewesen wäre. Er kannte dieses Phänomen seit seiner Jugend. Die meisten Menschen schienen ihn, wenn er sich in einer größeren Menschenmenge aufhielt, überhaupt nicht wahrzunehmen. Noch bis vor Kurzem hatte er gedacht, es läge daran, dass ihn die Menschen nicht mochten. Inzwischen wusste er, dass der Grund ein anderer war: Sie spürten, dass er ihnen überlegen war und wollten deswegen nichts mit ihm zu tun haben. Heute, an diesem Maiabend, genoss er genau aus diesem Grund die sonst so beschämende Nichtbeachtung. Wie es wohl erst sein würde, wenn er sein Meisterwerk vollendet hatte? Denn dann würde jeder wissen, dass ihr Gespür sie nicht getrogen hätte. Dass er besser war, als sie alle zusammen.
Als er den Stint hinter sich gelassen hatte und beim Fischmarkt angelangt war, drückte er sich in einen großen, dunklen Hauseingang. Dort setzte er den Rucksack ab, schnürte ihn auf und holte neben einem Handtuch nacheinander die darin verborgenen Frauenkleider heraus. Ihnen entstieg ein modriger Geruch, und sie sahen aus, als hätte er sie direkt aus dem Container der Altkleidersammlung gefischt. Dennoch zog er sie über seine Jeans und das Langarmshirt. Selbst an Schuhe und Strümpfe hatte er gedacht. So tauschte er jetzt, nachdem er seine nackten Füße zuvor in blickdichte, beige Strümpfe gesteckt hatte, seine Flip-Flops gegen klobige Latschen. Am Ende band er sich noch ein ausgeblichenes, graues Kopftuch um und zog Chirurgenhandschuhe über die Hände. Einzig der Rucksack hatte ihn ursprünglich vor ein Problem gestellt. Er hatte daran gedacht, ihn einfach unter dem Frauenkittel auf seinen Rücken zu schnallen, damit es aussah wie ein Buckel oder ihn am Bauch zu tragen, damit er schön rundlich wirkte, doch in beiden Fällen könnte der Rucksack verrutschen und ihn verraten. Schließlich war er auf die perfekte Lösung gekommen. Sie war ganz simpel und würde seine Verkleidung makellos machen.
Schnell zog er den Reißverschluss von der kleinen Seitentasche des Rucksackes auf und förderte ein kleines Nylonknäuel hervor. Es war etwa so groß wie ein Tennisball. Mit einem kurzen Ruck schlug er das Knäuel auseinander, das sich daraufhin zu einer Einkaufstasche, wie sie ältere Frauen bevorzugen, entfaltete. Er steckte seine Flip-Flops in den Rucksack und stopfte alles zusammen in die Einkaufstasche. Obenauf legte er seine Kamera. Alles in allem hatte ihn die gesamte
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