Bluthochzeit in Prag
schrie sie hell auf und wollte vorwärts laufen, aber Muratow und Pilny hielten sie fest und rissen sie zurück. »Micha! Micha! Ich liebe dich –«
»Es hat keinen Zweck«, sagte Pilny und drückte seine Hand auf ihren schreienden Mund. »Wir glauben dir nicht mehr.« Er nickte Muratow zu, und dieser packte Valentina und schleifte sie weg in die Dunkelheit.
Pilny nahm seinen Rucksack auf die Schulter, zertrat den Rest des kleinen Feuers, um das sie gesessen hatten, und folgte Lucek und Irena, die schon vorausgegangen waren. Irena stützte Lucek, und er ging besser, als es Pilny erwartet hatte. Mit eisernem Gesicht, den Kopf hoch erhoben, setzte Lucek einen Schritt nach dem anderen. Ihn anzusprechen und zu fragen, ob er Schmerzen habe, war gefährlich. Jeder wußte, was jetzt in ihm vorging, welche Qualen er bezwang, wie leergebrannt er war seit der Erkenntnis, eine sowjetische Spionin geliebt zu haben.
Nach zehn Minuten holte Muratow sie ein. Er keuchte unter der Last von zwei Rucksäcken und schwitzte stark. Pilny sah ihn kurz von der Seite an.
»Nun?« fragte er.
»Ich habe sie an einen Baum gefesselt. Sie ist ganz still …«
»Sie hat nichts mehr gesagt?«
»Nicht einen Ton.«
Pilny schwieg. Er überholte Irena und Lucek und übernahm die Spitze. Dann folgte Muratow, darauf Irena, als letzter ging Lucek, merkwürdig stark und sicher. »Ich brauche keine Stütze mehr«, hatte er zu Irena gesagt. »Ich fühle mich gut.« Von da an ging er allein … drei Meter Abstand trennten ihn von Irena.
Nach einer halben Stunde erreichten sie ein Gebiet, das so zerklüftet war, daß man die Hänge nur erklettern konnte. Hier mußte Lucek gemeinsam hochgetragen werden … er schaffte es nicht aus eigener Kraft.
Pilny blieb stehen und sah zurück.
»Micha!« rief er. »Wie geht es?«
Er bekam keine Antwort. Dafür ertönte ein Aufschrei Irenas.
»Er ist nicht mehr hinter mir! Micha ist weg!«
Pilny ließ den Rucksack fallen und wischte sich über die Stirn. Muratow warf die beiden Rucksäcke ab und lehnte sich an einen dicken Baum. Irena kam aus der Dunkelheit nach vorn gelaufen.
»Er ist weg!« rief sie. »Ich habe mich nicht umgeblickt … Ich hatte immer das Gefühl, seine Schritte hinter mir zu hören …«
»Er ist zurück zu Valentina«, sagte Muratow wie selbstverständlich. »Wir müssen ihm nach!«
Pilny schüttelte den Kopf. »Das kostet uns zuviel Zeit. Wir müssen zur Grenze. Für uns gibt es keine Umkehr. Los denn!«
Er warf den Rucksack wieder über die Schulter und ließ Muratow und Irena jetzt vorausgehen. Er selbst blieb noch ein paar Sekunden zurück und starrte in den schwarzen Wald hinein.
»Ich habe darauf gewartet –«, sagte er so laut, daß auch Irena und Muratow es noch hörten. »Micha, ich hätte es nicht anders getan! Leb wohl – wenn sie dich leben lassen …«
Dann drehte er sich um und lief den beiden anderen nach.
Bis zur Grenze waren es nur noch sieben Kilometer …
*
Michael Lucek hatte bewußt den Abstand zwischen sich und der vor ihm gehenden Irena größer werden lassen. Wenn sie sich umblickte, winkte er ihr zu. Es geht schon, hieß das. Keine Sorge. Ich komme mit. Ich beiße die Zähne zusammen, ich habe Kraft genug, ich bin keine Belastung für euch. Aber unmerklich wurde der Zwischenraum immer größer. Als sie in eine neue Wildnis eintauchten und jeder auf seinen Weg achten mußte, als die Rucksäcke doppelt so schwer wurden und die Lungen keuchten, blieb er stehen und sah den Schatten seiner Freunde nach, bis der Urwald sie völlig aufsaugte.
Er lehnte sich an einen Baum und preßte die Hände auf den dicken Verband. Ein Abschied ist's für immer, dachte er. Ich sehe sie nie wieder. Habt Glück, Freunde, im fremden Land!
Lucek sah in die dumpfe, stille Nacht. Von fern glaubte er noch die Schritte seiner Freunde zu hören, die sich durch den Wald und die felsigen Schluchten kämpften. Er wischte sich über die Stirn und holte vorsichtig tief Luft, atmete so tief ein, bis es in der Brust zu stechen begann, und stieß dann die Luft wieder aus. Das tat gut, gab ihm Kraft … er hatte früher nie geglaubt, daß Atmen so köstlich sein kann. Dann wandte er sich um und ging langsam den Weg zurück, den er gekommen war.
Er fand sich gut zurecht in der Dunkelheit und dem in der Nacht überall gleich aussehenden Urwald. Markante Punkte hatte er sich gemerkt … einen schräg liegenden Baum, dem ein Windstoß das morsche Holz zerbrach, ein Hohlweg, der an einer
Weitere Kostenlose Bücher