Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutholz: Historischer Roman (German Edition)

Blutholz: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Blutholz: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
Vom Netzwerk:
seinen Nächsten und jeder für sich selbst.«
    Jacob griff nach seinen Hut, faltete die Hände und senkte den Kopf. Alle Männer taten es ihm nach, und wie ein langer Schluckauf stotterte sich das leise Amen nach einer Weile durch die Menge. Dann lösten sich die Spannungen. Empfindsame Seelen seufzten, robuste Naturen lachten und schäkerten. Die erlebnishungrigen Kinder tobten und kreischten, die Alten husteten und spuckten. Jacobs Rede wurde mit Glückwünschen überschüttet, und für alle war ab heute deutlich: nach Hochwürden kam im Rang gleich Jacob Schnitzer, Jacob der Redner, der ihrer Eiche die Leichenpredigt gehalten hatte.
    6
    Wie eine Rotte aufständischer Bauern mit Familie und Gesinde zogen sie ins Feld. Es fehlte nur die vorangetragene Fahne und das bäuerische Kriegsgerät von Mistforken und Kastrierzangen, der Dreschflegel und Spaten, Knüppel und Stockspieße. Jacob und Bernhard liefen vorneweg, mit geschulterten Äxten, hinter ihnen die vorwitzigsten und frechsten Hauer, gefolgt von den Bloßhäuslern, die jetzt von der Angst getrieben wurden, für sich nicht genug vom Baum in Beschlag nehmen zu können. Außer zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges hatte sich keine derart große Menschenmasse den Hang hinaufgewälzt. Zum Spaß schwangen manche jetzt schon ihre Äxte und wirbelten mit den ellenlangen Baumsägen. Auch wer gar kein Holz wollte, fühlte doch den Drang, sich mit dem gewaltigen Stamm zu messen. Wetten wurden abgeschlossen, wie lang man brauchte, und jeder nahm sich vor, für Kinder und Enkel ein ordentliches Stück Souvenirholz zu schlagen, aus dem man von Backmodeln bis zum Schmuck alles Mögliche zu schnitzen gedachte.
    Jacob und Bernhard marschierten schweigend. Bernhard in Gedanken versunken an die Madame aus Burkheim, die heute nicht dabei sein würde, weil sie entweder mit Geschäften zu tun hatte, vielleicht auch mit ihrem Liebhaber geile Spiele trieb, oder weil sie einfach zu feig war. Jacob dagegen dachte an nichts. Blickte sich nur ab und zu um und lächelte verächtlich über den spektakelwütigen Lindwurm, der ihm blind folgte. Bei den Baumtrümmern angelangt, hob er die Axt und schlug sie mit Wucht in das schon morsche Holz. Alle machten es ihm nach, hieben mit derselben Kraft ihr Mordgeschirr hinein, einer nach dem andern, eine Axt neben der andern . Ausgerichtet, als hätten sie einen Befehl erhalten, stolz, als würde gleich ein Offizier die Waffenparade abnehmen.
    Alle Augen waren auf Jacob gerichtet. Und Jacob der Redner verstand. Er sollte die Parade abnehmen, sollte die Äxte segnen und ihnen allen, den Henkern dieses Baumwunders die Absolution erteilen.
    »Es gilt nun!«, rief er. »Allen, die die Axt erheben, sage ich: Kein Schlag sei in Wut getan, jeder Schlag sei mit Würde und Respekt ausgeführt. Wir alle wissen: Es ist unsere heilige Pflicht. Wir, unsere Arme und unsere Äxte, sind nur das Werkzeug des Schicksals. Jeder Schlag ist von ihm vorhergesehen, und darum ist jeder Schlag gut. So sei es!«
    Nach dieser kurzen Ansprache griff er Bernhards Axt, riss sie mit einem Ruck heraus und überreichte sie ihm mit einem: »Es gilt!« Verblüfft starrte Bernhard seinen Vater an, griff aber mechanisch zu. Doch in derselben Sekunde begriff er Jacobs bohrenden Blick, seine Mundwinkel zuckten, und er sagte laut und deutlich: »Es gilt!« Dies war das Zeichen, das alle verstanden. Jacob packte die nächste Axt, und Dutzende Male wurde das Urteil über tausend Jahre Leben gesprochen und bestätigt: Es gilt!
    Bedächtig ging Jacob auf den Baum zu, blickte noch einmal versonnen in das schwarze Geäst. Es war totenstill. Niemand rührte sich. Kein Vogel war zu hören, keine Uhr schlug in der Ferne. Selbst die Geräusche der Insekten waren verschwunden. Langsam hob er die Axt, hielt für den Bruchteil eines Augenblicks inne und schlug dann zu. Nur ein wenig Borke schilferte bei diesem ersten Hieb ab, und doch übertrug sich ein unendlich feines Beben über den gewaltigen Wurzelstock. Ein Beben, das kaum jemand spürte, aber auf geheimnisvolle Art die Gemüter der Umstehenden in Unruhe versetzte. Als ob sie etwas scheuchte, stürzten sich die Axtmänner daraufhin auf den Stamm und hieben zu, als müssten sie mit jedem Schlag ein Stück dieser Unruhe aus sich heraustreiben.
    Es dauerte einige Zeit, bis rund um den Stamm eine Kerbe zu sehen war. Und so aufrichtig auch jeder Holzfäller versuchte, Jacobs Worte von Würde und Respekt zu beherzigen, so wurden doch die Mienen

Weitere Kostenlose Bücher