Blutholz: Historischer Roman (German Edition)
Gallerte des Todes den Boden getränkt hatte und aus dem immer noch Modergeruch wehte.
Am Stumpf atmete Jenne auf, erleichtert darüber, dass ihr nichts Unheimliches begegnet, sie von keinen Schrecknissen getrieben worden war. Denn allzuviel wollte sie nicht drauf geben, was jetzt so viele von den Jungen sagten. Es gibt keine Geister und keine Dämonen. Zwar stimmte sie mit ihnen überein, dass nicht für jedes Geheimnis ein Gespenst oder ruheloser Geist verantwortlich waren oder gar der Teufel, Hexen, Feen und Kobolde, Zwerge und verzauberte Tiere, aber an die Folgen eines Fluchs glaubte sie, weil sie seit ihrer Schändung darauf hoffte.
»Doch!«, sagte sie halblaut vor sich hin, und in ihrem Kopf hämmerten die Worte: Ein Fluch lebt auch im Geringsten fort. Sollte es ruhig so sein, dass niemand anderes als die Natur selbst all die Merkwürdigkeiten und zauberisch anmutenden Erscheinungen schaffte und webte, die in früheren Zeiten zu Geschichten und Legenden aufgebauscht worden waren. Wo die Natur schuf, da verfluchte sie auch. Jenne sah es jeden Tag. Merkte es an Jacobs schwärendem Bein, der eiternden Wunde, die nicht heilte, sich aber auch nicht weiterfraß. Die nur immer ein kleines Stück mehr schmerzte, als wollte sie ihren Träger mitleidlos in der Hölle des Schmerzes verenden lassen. Deshalb schlug sie auch Holz von diesem Stumpf, mit kleinen kurzen Schlägen, damit es auch wirklich niemand hörte.
Wie eine Hexe federte Jenne auf dem fahlen Holz, trommelte sie mit ihren Absätzen und Schlägen auf den Stumpf und bedankte sich für die geschlagenen Splitter. Jede dieser racheschwangeren Kostbarkeiten wurde gestreichelt, die kalten zerfaserten Spitzen sorgsam im Schürzenbeutel verwahrt. Doch im Übermut rutschte sie aus und kippte nach hinten. Es half nichts, dass sie sich mit den Händen abstützte. Mit dem Hinterkopf schlug sie auf, schmerzhaft, doch der rauchige Duft, der sie gleich darauf in der Nase kitzelte, ließ sie augenblicklich vergessen.
Seltsame Bilder und Geräusche zogen an sie heran. Nicht deutlich, sondern nur schattenhaft, vielfach ineinandergeblendet. Doch zwischen Stümpfen und Eichentrümmern, verwüstetem Grund, nach Licht suchenden Eichenwinzlingen hörte sie einen stolzen Laut, der sich zu erhabenem Klang aufschwang und das Raunen und Lachen, Schreien und Fluchen übertönte. Wollte sie gerade noch mit dem einsamen Greis am Feuer weinen, stärkte sie der Rauch, der sie der Rauch, der sie hoch in die Wipfel einer Eiche trug, in deren Rauschen sie die Stimme des Baumes hörte. Eine Stimme, die sie immer mehr verschlang, deren übermächtiger Sprache sie gierig zu lauschen versuchte.
Da war das festliche Musizieren der Blätter zu Ehren der Taube, dort das selbstbewusste Lauschen während Gebeten und Liedern der Beladenen. Aber auch das geduckte Geflüster im schützenden Panzer, an dem Rohheit und Verzweiflung, Gewalt und Hohn vergeblich anbrandeten. Bis ein entsetzlicher Schrei die Borke zerriss und ins Fleisch schnitt. Jenne spürte das Beben des Baumes, das sich zu seiner Seele durchfraß und ihr Tränen des Ekels abpresste. Hörte sein Stöhnen, das bittere Schwitzen, das den Eichenleib mit Hass tränkte, und lauschte dem Weben des Verderben bringenden Plans. Blutige Fehde verkündete die Stimme, und so wie der Baum immer zerzauster und zerhackter, verwahrloster und abgestorbener sein Geäst vor Jenne ausbreitete, umso klarer hörte sie die verwunderten Stimmen derjenigen, die von seiner einstigen Pracht angelockt und eingefangen wurden, um schließlich ihre Frevel elendig zu büßen.
Über Jenne schlugen die Zweige zusammen. Das Skelett des Doms verwandelte sich in einen schwarzen Missklang, aus dem sich eine hässliche Melodie entwand. Jenne spürte sich um und durch den eichenen Leib gehetzt, dessen Wurzeln und Fasern, Knorren und Male sie mit Erschrecken als Bild ihrer selbst erkannte. Und die Melodie, begleitet von dumpfen Hieben, gewann an Gestalt, bemächtigte sich des Wortes und ordnete sich zur Anklage eines Fürsten der Bäume:
»So gleicht ihr mir und seht es nicht! Ist doch alle Gestalt von mir wie alle Gestalt von euch! Meine Knospen sehen wie eure Augen! Meine Zweige fühlen wie euer Hirn! Meine Äste tragen wie eure Arme! Auf meinem Stamm ruhe ich, wie ihr auf euren Beinen steht! Und meine Wurzeln halten mich wie euch die Füße! Was ist anders?«
Jennes Kopf dröhnte unter der Wucht der Schläge, die Anklage wurde gereizter und böser.
»So gleicht ihr mir
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