Blutholz: Historischer Roman (German Edition)
und seht es nicht! Ist doch jedes Blatt von mir wie ein Haar von euch! Meine Borke ist eure Haut! Mein Holz ist euer Fleisch! Was ist anders?«
Die Schläge waren jetzt körperlich. Schüttelten und zerrten an ihr in unmäßiger Wucht. Kaum mehr zu verstehen war das gellende Geheul.
»So gleicht ihr mir und seht es nicht! Sind doch alle Fasern von mir wie all die Sehnen bei euch! Mein Kern sind eure Knochen, mein Mark vergleicht sich euerm Mark! Mein Harz ist euer Blut! Was ist anders?«
Ein gewaltiger, alles zertrümmernder Hammerschlag brachte die Anklage zum Verstummen. In gewaltigem Tosen schwindelte Jenne in einen Abgrund, vor ihren Augen vernebelten sich Blätter und Borke, Äste und Stamm in ein tiefschwarzes Nichts, aus dem sie tröstlich heiter die Sterne begrüßten, als sie wieder zu sich kam.
Die kleine Beule am Hinterkopf schmerzte nur noch, wenn man drauf achtgab. Doch Jenne war längst wieder auf den Beinen, als sie sich an ihren Sturz erinnerte. Die Uhr schlug gerade dreiviertel sechs. Also konnte sie höchstens ein paar Minuten so gelegen haben. Was war eigentlich passiert? Hatte sie geträumt? Jenne lauschte in sich hinein, dann schüttelte sie verwundert den Kopf. Beim ersten Blick in den Sternenhimmel hatte sie geglaubt, das Echo von Gefühlen und Geräuschen, Worten und Bildern würde so schnell nicht vergehen, aber jetzt, jetzt war alles vergessen. Die Knochen taten ihr weh, und der Kopf fühlte sich dumpf an. Aus ihrem Schürzenbeutel war nichts herausgefallen. Sie hatte genug Holz. Es war an der Zeit heimzugehen. Man konnte sich fast einbilden, dass es schon dämmerte. Als Jenne ihre kleine Axt aus dem Holz zog, fielen ihr urplötzlich die seltsamen Worte ein: »So gleicht ihr mir und seht es nicht. Was ist anders?« Wer hatte sie gesagt? Jenne fing an zu grübeln, doch gab es bald auf. Sie verstand sie nicht. Sie hörte nur die brüllenden Kühe, die gackernden Hühner und Jacobs Stöhnen. Und dies stimmte sie heiter.
28
Den Tag vor dem Adventsfest war bei den Schnitzers Schlachttag gewesen. Jacob hatte Bernhard den schweren Holzkolben in die Hand gedrückt. Als zukünftiger Hausherr müsse er auch dies beherrschen. Damit das nervenaufreibende Quieken sich zum leisen Röcheln bändige, langten zwei gut gesetzte Schläge. Bernhard aber brauchte vier und musste sich abwenden, als das Schwein unter seinen Griffen verzuckte. Zweimal musste er mit dem scharfen, aber schartigen Messer zustechen, und er schwor sich, dies nie wieder zu tun. Jenne fing das Blut, damit es nicht gerann, in einer Schüssel mit kaltem Wasser auf. Das Schlachtgeschirr hatte sie den Tag vorher geliehen. Am wichtigsten war der riesengroße Holztrog, in dem das Schwein abgebrüht und mit Bürste und Rohr entborstet wurde.
Am Mittag war das Schwein zerlegt, die Gedärme in Salz und Essig gesäubert, die Portionen zum Pökeln beiseite geschafft. In einem großen Kessel zog das restliche Fleisch mit Kopf und Bauchlappen gar. Maria sortierte die besten Stücke für den Advent aus, anschließend mengte sie mit Jenne Gewürze in das derweil von Jacob und Bernhard durch den Wolf getriebene Fleisch. Niemand würde sich morgen beklagen können. Es gab Fleisch satt: Zuerst stand das »Schwarz-Sauer« an, die Blutsuppe mit Pfoten, Schnauze, Dörrobst und Pflaumen, dann würde es weitergehen mit heißgemachten, beim Anschneiden spritzenden Leber- und Blutwürsten. Danach das Kesselfleisch und als Höhepunkt der gefüllte und garnierte Schweinskopf. Zu allem gab es Bier und Wein, viel Senf, gekochtes Getreide und Kraut. Ein wenig derb sollte es schon zugehen. Jeder sollte sein Essbesteck mitbringen, und sauber angezogen zu sein, war ausreichend, Sonntagsstaat allerdings war nicht erlaubt.
Am Abend fielen alle todmüde ins Bett, Jacob mit vor Schmerzen weißverbissenem Gesicht. Seit Wochen war er nicht mehr so lange auf den Beinen gewesen, morgen würde er sich den Vormittag von Jenne und Maria gut pflegen lassen müssen, damit er vor der Madame nicht als leidender Greis dastand. Gegen drei Uhr wollte er mit dem Herrn Sohn in ihrem Keller vorbeischauen, um das Ruländerfass abzuholen. So war es vereinbart, aber ohne Leiterwagen. Nicht die geringste Blöße wollte er sich geben. Noch war er der Hausherr, und dazu gehörte, dass er selbstbewusst auftrat.
Am Festtag bat Bernhard seinen Vater, ihm ein Stückchen Vorsprung zu gönnen. Er wolle mit der van Bergenschen eine Kleinigkeit abmachen. Erstens, weil die Gelegenheit dazu
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