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Blutholz: Historischer Roman (German Edition)

Blutholz: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Blutholz: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Liebert
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ihn seitdem wie einen der ihren achteten. Hatte doch selbst der alte Abt bekannt, dass ihm Stand und Name eines »Bekehrten von der Welt« besonders zukämen. Unbezweifelbar hatte dies mit seinem Schicksal, dem Gnadenerweis durch die Heilige Jungfrau, zu tun. Einmal mehr hatte sie gezeigt, dass sie bei Gott auch für den tief Gefallenen die Erlösungsgnade erflehen konnte – selbst für so einen wie ihn, einen verhurten Steinmetz!
    Vor dem Eingang hielt Gregor kurz inne und blickte – warum, wusste er auch nicht recht – in Richtung Klostermauer. Irgendwann würde sie dem Druck des angrenzenden Waldes nachgeben und einstürzen. Er freilich würde dies nicht mehr erleben, aber er fühlte sich verpflichtet, auf solche Gefahren hinzuweisen. Zu nah standen der Mauer die jetzt noch harmlos anzuschauenden Eichen – wo doch kaum etwas kräftiger stemmt als deren massiges Wurzelwerk. Wühlten sie sich auch langsam ihre Bahn, irgendwann würden sie die Mauer erreicht haben und dann die Sandsteinquader stetig aus dem Lot hebeln. Kein Stein würde auf Dauer solchem Druck widerstehen können. Die Eichen mussten weg! Dies galt es noch rechtzeitig vorzubringen.
    Gregor genoss den erfrischenden Wind, der den Vormittag über immer stärker geworden war und einen Wetterwechsel ankündigte. Vom Westen zogen immer mehr Wolken auf, die hoffentlich den dringend benötigten Regen bringen würden. Seit Wochen führten die beiden Bäche nicht mehr genug Wasser, um Gießkannen und Kübel ohne längeres Warten vollzubekommen. Viehisch plagten sich die Brüder auf den Feldern, damit die Ernte nicht vertrocknete.
    Eine Stunde lang würde er jetzt in der Mitte des Chores auf den Steinplatten knien. Im Sommer erträglich, im Winter aber ein Martyrium, das selbst einem abgehärteten Steinmetz viel abverlangte. Einmal war er im März ohnmächtig zusammengebrochen. Zur Skulptur wäre er erstarrt, hätte man ihn nicht nach drei Stunden gefunden. Die Ärmel waren bereits am Boden festgefroren und die Stoffalten am Rücken ähnelten gemeißeltem Stein. In der Küche hatten ihn seine Brüder buchstäblich auftauen müssen, aber schon am übernächsten Tag war er wieder auf den Beinen und in seinem Bethaus.
    9
    Wie jeden Tag nahm Gregor in der Kapelle die Harmonie des Kreuzgewölbes gefangen und in ruhiger Andacht harrte er auf das Ende des Zwölf-Uhr-Schlagens. Wie einst die Mönche, die an diesem Ort das Stundengebet der Seligsten Jungfrau sprachen, so betete und dankte er für seine wundervolle Rettung.
    Gregor schaute dabei auf ein festes Pensum, das er sich selbst zurechtgelegt hatte. Keinesfalls wollte er es den Mönchen nachtun, die in einer Woche die einhundertfünfzig Psalmen der Schrift abbeteten. Angemessen war sein Pensum trotzdem: Die Liturgie kam nicht zu kurz und rahmte sein persönliches Zwiegespräch mit Gott und der Heiligen Jungfrau sinnvoll ein.
    Nach dem letzten Glockenschlag begann Gregor leise mit dem Ave Maria. Anfang und Ende der Stunde waren ihr vorbehalten. Credo, Privatgebet und Pater noster folgten und oft quollen aus seinen geschlossenen Augen Tränen, wenn er im Herzen den Worten nachlauschte: Ave Maria, gratia plena … Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade …
    Doch heute wollte sich keine Rührung einstellen. Das Herz blieb kalt. Lag es an der Wärme des Vormittags oder an der betörenden Schmeichelei des Windes, waren es die magischen Ströme von Erde und Wald, die in wetterwendischer Gereiztheit alles in ungeduldige Spannung versetzten – Gregors Augen blieben trocken, und seine stumm gesprochenen Worte zündeten kein Feuer in seiner Seele. Nur ein leichter Schauer war es, der vom Rücken her seinen Leib durchzitterte. Aber er genügte, seine Versenkung ins Gebet zu stören. Und in dieser Anspannung drang etwas an seine Ohren, ein für ein abgelegenes Kloster unendlich fremdes Geräusch.
    Machtlos war Gregor seinem Lauschen ausgeliefert. Nach und nach gelang seinem Verstand, das Geräusch zu deuten, schließlich gab es keinen Zweifel mehr: Was er da hörte, war das Schreien eines Säuglings, das unrhythmisch näher, bald ferner klang. Ein Kribbeln befiel ihn, dann hielt er es nicht mehr länger in der Kapelle aus. Das Ave Maria geriet zum leeren Geplapper und die Bekreuzigung nach dem Amen zur fahrigen Geste. Gregor hastete durch das Schiff und zog ungeduldig er an der verzogenen Holztür, deren Schloss nur widerwillig funktionierte.
    Draußen hatte die Stimmung gewechselt. Der Wind war schwächer geworden,

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