Blutholz: Historischer Roman (German Edition)
sollte sie aus dem Boden ziehen, die sie nicht zuviel Kraft kosteten. Angemessener für ihr Alter sei es freilich, wenn sie bloß die Bänder lösen würde, mit denen Weinstock und Ruten an die Stecken gebunden waren. Die ungefähr ellenlangen Roggenstrohbänder eimerweise zu sammeln und sie anschließend zu bündeln sei völlig ausreichend. So hatte es ihr der dicke Rudolf geraten, aber bald einsehen müssen, dass alle seine Mahnungen in den Wind gesprochen waren. Mit fünf Konversen und vier Lohnknechten bewirtschaftete der Klosterhofmeister in Ihringen den Tennenbacher Eigenbauhof, einen von mehreren Weinhöfen des Klosters, wie sie auch in Kichlinsbergen oder Bahlingen zu finden waren.
Rudolf hätte mit Engelszungen reden können, aber Barbara hatte sich vorgenommen, sich bis zum Zusammenbruch zu verausgaben. Die mannshohen Rebstecken, die im Frühjahr mit der schweren Hacke in den Lößboden eingeschlagen wurden, standen zum Teil so fest, als hätten sie Wurzeln geschlagen. Barbara glühte vor Hitze und Eifer, und jedes Mal, wenn sie an einem solch festgerammten Stecken zerrte, schien ihr im Gesicht das Blut vor Anstrengung zu kochen. Hätte sie einer von den Klosterarbeitern von nahem gesehen, er wäre ihr mit schweren Vorwürfen in den Arm gefallen.
Nur sechs Rebzeilen lagen noch vor ihr – was bedeutete, dass sie ihr Tagwerk beinahe schon erfüllt hatte. Und dies Stunden vor dem Rückweg nach Breisach, wo sie um sechs zur Vesper erwartet wurde. Auf einem halben Jauchert waren dann alle Rebstecken gezogen und alle Bänder eingesammelt und gebündelt. Eine titanische Leistung für ein fünfzehnjähriges Mädchen, das seit diesem Frühjahr zweimal die Woche Winzerarbeiten verrrichten durfte. Aber heute war Barbara hier, um zu vergessen, um sich durch Anstrengung zu betäuben.
Vor einigen Tagen war Johannes außerhalb der sonst üblichen Besuchstage allein in Breisach erschienen. Und nicht gelacht hatte er, als sie jubelnd auf ihn zugeeilt war, sondern sie mit Tränen in den Augen umarmt. Beherrscht hatte sie es aufgenommen und nur wenig geweint, aber am nächsten Morgen, gleich nach dem Aufwachen, hatte sie der Schmerz überwältigt. Gregor war tot; tot, weil es Gott angeblich gefallen hatte, ihn mit dem Aufflackern der längst überwunden geglaubten Franzosenkrankheit an seine Gnade und Allmacht zu erinnern. Eine Nachricht, die Barbara eine nie gekannte Einsamkeit und Wut fühlen ließ. Jetzt war sie eine andere geworden, war ihr so richtig bewusst geworden, was es heißt, als Findelkind in einem Nonnenkloster aufzuwachsen.
Nur Schwester Catharina, ihre Erzieherin-Mutter, fand nach diesem Schicksalsschlag noch Zugang zu ihr. Barbara war ihr jetzt doppelt dankbar, dass sie sich im März dafür ausgesprochen hatte, ihren Zögling das Winzerhandwerk erlernen zu lassen. Maria Catharina Schweißgut, die hagere Bruchsalerin, die von den Schülerinnen nur Bohnenstecken genannt wurde, war die einzige, die Barbaras Begeisterung für den Weinbau nicht als versponnene Marotte abgeurteilt hatte. Deshalb durfte sie jetzt auf dem Tennenbacher Eigenbauhof in Ihringen alles lernen, was eine Winzerin wissen muss.
Von den jüngeren Schwestern hielt noch Schwester Antonia, ihre Rechen- und Hauswirtschaftslehrerin zu ihr. Die anderen hatten Schwierigkeiten mit ihrem Temperament und ihrer sittlichen Führung, wie sie sich ausdrückten. Und Schwester Marianne, bei der sie Handarbeiten verrichten sollte und die zu allem Überfluss auch noch zu ihrer Beichtschwester bestimmt war: Schwester Marianne war tatsächlich zu ihre Feindin geworden. Denn auf der nächsten Konventsitzung, hatte sie angekündigt, würde sie sich für eine Strafe aussprechen.
Je emsiger Barbara ihren Schmerz bezwingen wollte, umso mehr Erinnerungen stiegen in ihr auf. Als ob die Anspannung des Körpers ihre Seele auf Wanderschaft schicken wollte, tauchten Bilder und Szenen auf. Mosaikstücke aus den Geburtstags- und Aschermittwochsausflügen mit Gregor und Johannes, aber auch Erinnerungen an den Klosteralltag mit den Stimmen und Gesichtern der Schwestern.
»Sie sind da!« hieß es, wenn es wieder einmal so weit war – im Vorbeigehen durch den zugigen Spalt der halboffenen Tür des Kleinen Studierzimmers zugerufen. Nicht einmal dort, wo sie an Besuchstagen den Nachmittag bis zum Eintreffen von Gregor und Johannes verbringen durfte, war es erlaubt, die Tür zu schließen. Alles wollten sie überwachen, die fürsorglichen Schwestern und am liebsten hätten
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