Blutholz: Historischer Roman (German Edition)
Vater zu ihr. Wie ein Vater – je älter sie wurde, umso sehnlicher wünschte sie zu wissen, wer ihre Eltern waren und warum sie ihr Kind einfach ausgesetzt hatten. Eine richtige Mutter zu haben, konnte sie sich kaum vorstellen. Barbara seufzte auf und begann wieder an die seltsame Begegnung zu denken, die sie mit Gregor und Johannes vor Jahren auf dem Markt gemacht hatte.
17
Sie war neun geworden, und es war Markttag, als Gregor vor einem roten Kastenwagen stehen geblieben war. Ihm ginge es allmählich wie dem Riesen Christophorus, hatte er gesagt und sie von den Schultern gehoben. Eine hübsche Zeit lang hatte er sie durch das Marktgewühl getragen, aber nach und nach waren selbst seine Kräfte erlahmt. Johannes erklärte, dieser Wagen sei so charakteristisch für das fahrende Volk wie das Gewicht des Herrn für Christophorus. Wenn sie etwas warten würden, kämen sie vielleicht in den Genuss einer Pantomime oder irgendeines anderen Stückleins.
Barbara stand das Erlebnis vor Augen, als sei es gestern gewesen. Sie hatte gefragt, was eine Pantomime sei, war dann aber von einer der Schauspielerinnen abgelenkt worden. Die saß mit dem Gesicht zum Marktvolk, neben sich einen ovalen Tisch, auf dem Kämme, Schmuck, Pinsel und Schminkfarben ausgebreitet waren. Schminken ließ sie sich von einem einarmigen Gnom, was für schnellen Zulauf gesorgt hatte.
Barbara zuckten unwillkürlich die Finger, als sie an die holzgedrechselten Schminktöpfe dachte. Sie hätte damals am liebsten in jeden Topf gegriffen, um sich selbst das Gesicht anzumalen. Wie eine Marquise hatte die Schauspielerin mit der weißen Pompadour-Perücke ausgesehen. Ein schwarzer Schönheitsfleck war ihr aufgemalt, die Augen wurden ihr getuscht, und mit drei verschiedenen Rötelstiften hatte der Gnom ihre Lippen in leuchtendes Korallenrot verwandelt. Und dann die Kämme: Es waren welche aus Perlmutt dabeigewesen, goldene und türkisene. Sogar einer mit Papageienfedern. Barbara hatten die mit rubinroten Steinchen und goldenen Perlen besetzten Steckkämme am meisten gefallen. Und auch jetzt, war sie sich sicher, würden diese immer noch am besten zu ihrem schwarzlockigen Haar passen.
Barbara war bereits in der Unterstadt, aber so in Gedanken versunken, dass sie einen Umweg machte. Ihre Erinnerungen leiteten sie, und so nahm sie den Weg durch die steile Gasse mit dem Hagenbachtor über die Rheinseite des Münsterbergs. An der niedrigen Mauer des Bergplateaus vorbei, auf der sie so gern balancierte. Oft war sie mit Gregor und Johannes hier gewesen. Längst vergangenen Bilder wurden wieder lebendig, und da fiel Barbara plötzlich ein, wie sich die Schauspieltruppe genannt hatte.
»Compagnie de la Reine« prangten damals die weißen Buchstaben im Halbkreis auf dem roten Kastenwagen, dessen Farbe an einigen Stellen abgeplatzt war. Mit dem Karren als Rückwand hatten die Schauspieler die Bühne auf dem Marktpflaster trapezförmig abgesteckt – mittels zweier übermannshoher, zwischen die Pflastersteine gerammten Pfähle, um die eine Schnur geführt war. Einer der Schauspieler lief auf Stelzen umher und hängte abwechselnd gelbe und grüne Stoffbahnen über die Schnur. Allerlei Mätzchen hatte er dabei gemacht, drohte zu stürzen, fing sich jedoch immer wieder in letzter Sekunde, bis er endlich eine richtige Guckkastenbühne austapeziert hatte. Als Requisiten wurden ein Tisch mit zwei Stühlen, ein Strohbesen und ein Weinfass aufgestellt.
Schon damals hatte sie sich für das Weinfass interessiert, das ihr recht groß vorgekommen war. Vielleicht fasste es einen Eimer, wahrscheinlich aber weniger. Auf jeden Fall trugen die Dauben das gleiche Rot wie der Kastenwagen, nur die Fassreifen waren gelb gestrichen. Die Böden waren mit Blumengirlanden verziert und der Hahn war so blank geputzt, dass er glänzte wie Gold.
»Ist da Wein drin?« hatte sie gefragt und als Antwort ein amüsiertes Lachen von Gregor und Johannes erhalten.
»Barbara, Mädchen«, hatte Gregor gesagt, »wenn es voll wäre, hätte es der Stelzenmann nicht so einfach tragen können.«
Sie hatte sich anfangs sehr für diese dumme Frage geschämt, dann aber leichtfertig drauflosgeredet. Wenn sie groß wäre, wolle sie auch so schön aussehen, hatte sie der Pompadour gesagt. Und deren Antwort klang ihr jetzt wieder ganz frisch in den Ohren.
»Da sieht die Mode sicherlich schon ganz anders aus, kleines Mädchen«, hatte sie gesagt und dann nach ihrem Namen gefragt. Sie sei die Colette und spiele
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