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Blutige Asche Roman

Titel: Blutige Asche Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Pauw
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ergänzt werden, damit er nicht ausging.
    La Souche bekam zu vorgegebenen Zeiten zu essen und wurde danach wieder auf die richtige Temperatur gebracht. Pierre sprach sogar mit dem Teig. »Wie geht es dir heute, mein Schatz? Hast du’s schön bequem?«
    Zu mir sagte er: »Das ist wie Wein machen, Ray. Alles kommt auf die richtige Temperatur an. Merk dir das: Zeit und Temperatur.«
    Eines Tages rief er mich zu sich: »Riech mal.« Er hielt mir den Tontopf unter die Nase.
    Ich beugte mich vor, schloss die Augen und sog vorsichtig den Duft ein.
    »Riechst du, wie süß La Souche ist? Frisch, aber nicht säuerlich? Sie ist so wie ich, Ray. Sie ist dafür verantwortlich, dass unser Brot außen so knusprig und innen so weich ist. Sie verleiht ihm den frischen, süßen Geschmack. Ohne sie ist Brot nichts als Wasser und Mehl. Ohne sie ist alles nichts, mon fils .«
    Er zeigte mir auch, wie ich mit La Souche umgehen musste, denn es war ein anspruchsvoller Teig, noch anspruchsvoller
als eine Frau, sagte Pierre. Er zeigte mir genau, was La Souche mochte und was nicht. Bei welcher Temperatur sie am besten gedieh, und wann man ihr wie viel zu essen geben musste.
    Ein Jahr später bekam ich die volle Verantwortung für La Souche übertragen. Was das Abwiegen der Nahrung und das Einstellen der richtigen Temperatur anging, sei ich viel besser als er, fand Pierre. Er hätte noch niemanden erlebt, der das so gut könne wie ich.
    Nach fünf Jahren gehörte die Backstube mir. Jeden Morgen begann ich kurz vor drei mit dem Backen. Während die Baguettes, pains aux noix , pains aux céréales , pains au chocolat , chaptas , Croissants und Brioches im Ofen waren, beschäftigte ich mich mit dem Abwiegen. In kleinen Behältern bereitete ich alles vor, was ich für den nächsten Tag brauchte: das Mehl, die Nüsse die Schokolade, die Rosinen, die Sonnenblumenkerne, den Käse, die geriebenen Mandeln.
    Um halb sieben kamen Margreet und Pierre, um die frisch gebackene Ware in den Laden zu bringen. Wenn der um sieben Uhr aufmachte und die Bewohner des Villenviertels zusammen mit dem ein oder anderen ehrgeizigen Prinsessenviertel-Einwohner Schlange standen (»Die spinnen!«, rief Pierre meist laut), bereiteten Pierre und ich den Teig für die acht verschiedenen Brotsorten vor und backten canlés und tartelettes . Der Mittag war für den Croissantteig reserviert. Wir arbeiteten so lange Butter ein, bis hundert kleine Schichten entstanden waren. »Das ist Perfektion«, sagte Pierre dann. »Absolute Perfektion.«
    Nachdem ich jahrelang dort gearbeitet hatte, zogen Pierre und Margreet nach Frankreich. Der Betrieb wurde von einem Mann mit Angeberbrille übernommen, der mir die ganze Zeit auf die Schulter klopfte. Laut Margreet tat er das, weil
er gern mein Freund sein wollte. Ohne mich sei die Bäckerei wertlos, meinte sie.
    Am Tag ihres Umzugs rief mich Pierre zu sich. In seinen Armen hielt er den Tontopf mit dem Mutterteig. »Das ist mein kostbarster Besitz, mein bébé . Ich habe La Souche von meinem Vater bekommen, als ich meine erste boulangerie aufmachte. Sie hat mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Weil ich keine Söhne habe und mir Margreet auch keine mehr schenken wird, gebe ich sie jetzt dir.« Tränen liefen ihm über die Wangen.
    Salz ist am verhängnisvollsten für den Mutterteig. Schnell nahm ich ihm den Tontopf ab, damit keine seiner Tränen in La Souche fiel.
    »Genieße sie. Benutze sie. Hege und pflege sie. Ich verlass mich darauf, dass du jemanden finden wirst, dem du sie deinerseits anvertrauen kannst. Und wenn nicht, verlass ich mich darauf, dass du sie vernichtest. Versprichst du mir das, Ray? Tu me le promets? «
    » Oui «, entgegnete ich.
    Als Pierre und Margreet weggezogen waren, ließ der Eigentümer die Bäckerei komplett umbauen. Vorher war die Backstube ein geschlossener Raum gewesen, hinter dem Laden. Dem neuen Besitzer gefiel die Vorstellung, dass mich die Kunden bei der Arbeit beobachten könnten. Damit sie sahen, dass alles frisch und selbst gebacken war und nicht aus der Fabrik kam. Die Mauer zwischen Laden und Backstube wurde durchbrochen und durch eine Glasscheibe ersetzt.
    Auf einmal sahen Menschen zu, wie ich Äpfel schälte, um sie zu tartelettes zu verarbeiten, und wie ich den Teig knetete, mit ruhigen, wohlüberlegten Bewegungen. Das machte mich verlegen. Und weniger perfekt.

    Vorher wogen alle couronnes genau 525 Gramm. Dafür sorgte ich. Das gehörte zu den Dingen, die mir wichtig waren. Nach dem Einbau der

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