Blutige Asche Roman
nachzuwinken, auch dann nicht, als sie längst hinter ihrer Haustür verschwunden waren. Meine Familie. Das hatte sie selbst gesagt. Wir sind beinahe eine Familie. Ich glaube, an diesem Abend war ich glücklich.
Ich schlug die Augen auf und sah, dass ich in der Isolierzelle lag. Es roch nach Desinfektionsmitteln, ein unangenehmer Geruch. Er erinnerte mich an die Putzmittel, die wir in der Bäckerei verwendeten.
Ich trug merkwürdige Kleider. Das Material war eine Mischung aus Papier und Baumwolle. Ich zitterte, und mir war kalt. Nicht, weil die Temperatur in der Zelle niedrig war. Ich fror innerlich.
In der Zelle gab es nichts zu tun, nichts zu sehen. Eine Schultafel, neben der ein Stück Kreide lag, bot die einzige Ablenkung. Ich nahm die Kreide und fing an zu schreiben. Liebe Mutter. Ich wischte es weg. Liebe Rosita. Ich wischte es weg. Liebe Iris.
Ich hatte nie eine Schwester gehabt, konnte mir aber vorstellen,
dass man Geheimnisse miteinander teilt. Hatte sie nicht versprochen, mir zu helfen? Ich schrieb weiter, bis die Tafel voll war, wischte alles wieder weg und begann von vorn. Ich schrieb und wischte, immer wieder aufs Neue. So lange, bis ich alles gesagt hatte, was es zu sagen gab. Auch, was man nicht sagen darf.
27
Sie sah mich sofort, kaum dass sie durch die elektrischen Schiebetüren in die Ankunftshalle eins kam. Ich weiß nicht, ob sie überrascht war, sie ließ sich auf jeden Fall so gut wie nichts anmerken. Wir musterten uns starr. Neben ihr lief ihre Bridgefreundin, die wie meine Mutter eine Leidenschaft für Entschlackungsreisen hatte. Darüber hinaus besaß Lien eine Vorliebe für riesige Broschen und nannte alle Welt »Liebes« oder »Liebling«, egal, ob es sich um ihre beste Freundin oder die Verkäuferin im Gemüsegeschäft handelte. Meine Mutter und sie kannten sich schon seit Jahren.
Lien entdeckte mich, rempelte meine Mutter an und fing an, mir begeistert zuzuwinken. »Das ist aber nett! Da hast du wirklich Glück, Ageeth. Ich müsste erst die Geldbörse zücken, damit mich Carla mal in Schiphol abholt.« Sie umarmte mich und drückte mir einen dicken Kuss auf die Wange. »Hallo, Liebes! Ja, ich küsse immer nur einmal. Wie schön, dich wiederzusehen. Wo ist dein süßes Kerlchen?«
»In der Krippe.«
»Los, Ageeth, was stehst du hier rum. Gib deiner Tochter einen Kuss!«
Ich war neugierig, was meine Mutter tun würde. Aber ich hätte mir denken können, dass sie sich in Gegenwart ihrer Freundin nichts anmerken ließ. Steif küsste sie mich dreimal.
»Was für eine Überraschung, stimmt’s, Mama?«, meinte ich vielsagend.
Sie warf mir einen hasserfüllten Blick zu.
»Gehen wir zum Auto? Dann fahr ich euch nach Hause.«
»Das ist ja wunderbar«, sagte Lien. »Die Taxifahrer sprechen heutzutage kaum noch Niederländisch, geschweige denn, dass sie den Weg kennen. Prima, was, Liebes?« Sie stupste meine Mutter an. »Du hast wirklich Glück mit deiner Tochter.«
»Und wie«, sagte meine Mutter sarkastisch.
Nachdem sich Lien lang und breit verabschiedet und ihr versprochen hatte, bald mal mit Aron vorbeizukommen, fragte meine Mutter: »Iris, was war denn das für ein Theater?«
Ich ließ den Wagen an. »Hattest du einen schönen Urlaub, Mama?«, fragte ich liebenswürdig.
»Natürlich nicht. Wie soll ich mich erholen, wenn du in meinen Sachen rumwühlst.«
»Ich frage mich eher, wie du dich erholen kannst, während dein Sohn in der Psychiatrie sitzt.«
»Du weißt es also.«
»So schwer war das auch wieder nicht.«
Meine Mutter starrte aus dem Wagenfenster. Ich musste sie gar nicht ansehen, um zu wissen, dass sie wütend war.
»Hast du wirklich geglaubt, bis in alle Ewigkeit verheimlichen zu können, dass du einen Sohn hast?«
»Bis du anfingst, in meinen Sachen zu wühlen, ist es mir ziemlich gut gelungen.«
»Sonst noch was? Das entschuldigt noch nicht, dass du Ray, meinen Bruder, mit gerade mal neun Jahren aus dem Haus geworfen und anschließend verheimlicht hast. Wie konntest du nur, Mama? Ausgerechnet du, die ständig von Verantwortung redet.«
»Ich bin dir keine Erklärung schuldig, Iris. Du weißt ja
nicht, wie das damals war. Was ich durchgemacht habe. Im Grunde bist du wie ein kleines Kind. Du denkst immer nur an dich.«
»Ich denke gern auch an dich. Aber dazu fällt mir nur ein, dass wir die Schuhe ausziehen sollen, damit dein Teppich nicht schmutzig wird. Woher soll ich wissen, was sich in deinen Gehirnwindungen abspielt, wenn du alles geheim
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