Blutige Asche Roman
nicht vor, aufzugeben. »Hast du Ray schon mal besucht? Im Gefängnis oder in der Hopperklinik?«
»Ich bin im Gefängnis gewesen, ja«, sagte sie förmlich. Sie hatte den geöffneten Koffer aufs Bett gelegt. Ihre Kleider, überwiegend in grellen Farben, wie sie Frauen über sechzig gerne tragen, lagen ordentlich gefaltet nebeneinander. An der Seite entdeckte ich einen hautfarbenen BH und Hüftslips mit Spitzenrand. So wie es aussah, hatte sie im Urlaub alles waschen lassen. Das war mal wieder typisch für sie.
Meine Mutter schien meinen Blick bemerkt zu haben. Sie nahm ihre Unterwäsche hastig aus dem Koffer und steckte sie in die dafür vorgesehene Kommodenschublade.
»Aber jetzt besuchst du ihn nicht mehr? Wusstest du, dass er unglaublich einsam ist?«
Meine Mutter ging mit einem Stapel T-Shirts auf dem Arm zum Kleiderschrank. Während sie mir den Rücken zugekehrt hatte, sagte sie: »Darf ich deinem Gedächtnis kurz auf die Sprünge helfen? Er hat jemanden ermordet, was rede ich da, er hat zwei Menschen ermordet: eine Mutter und ein Kind. Du brauchst kein Mitleid mit ihm zu haben.« Sie drehte sich wieder zu mir um, wühlte in ihrem Koffer und holte von ganz unten ein Geschenk hervor. Sie warf es in meine Richtung. Es landete irgendwo am Fußende des Bettes. »Das habe ich dir mitgebracht.«
Es handelte sich eindeutig um etwas Alkoholisches. Ich wickelte die Flasche aus dem dünnen Papier, das Etikett eines obskuren slowenischen Schnapses kam zum Vorschein. »Danke dir.«
»Eine regionale Spezialität. Ich hab auch was für Aron, aber das gebe ich ihm lieber selbst. Falls er mich noch besuchen
darf - jetzt, wo du weißt, was für ein furchtbarer Mensch ich bin.«
»Leb deinen Kompensationszwang ruhig bei Aron aus. Er scheint nichts dagegen zu haben.«
»Du ja wohl auch nicht.«
»Das stimmt.«
Wir schwiegen.
»Unter Umständen sitzt dein eigen Fleisch und Blut unschuldig in der Psychiatrie. Macht dir das gar nichts aus?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du kennst Ray nicht. Du weißt ja nicht, was du da redest.«
»Vielleicht sehe ich ihn objektiver, gerade weil ich ihn nicht kenne.« Das war natürlich Quatsch. So sehr sich meine Mutter an Rays Schuld klammerte, klammerte ich mich an seine Unschuld.
»Du hast ja keine Ahnung, Iris, nicht die leiseste Ahnung.«
»Davon will ich mich lieber selbst überzeugen.«
Meine Mutter ging ins angrenzende Bad, um ihr bisschen Schmutzwäsche in den Wäschekorb zu werfen. Als sie zurückkam, sagte sie: »Lass ihn bitte in Ruhe. Und meine Vergangenheit auch.«
28
»Ist da jemand?« Ich klopfte an die Tür. »Hallo?«
Keine Reaktion.
Ich sah mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Doch es gab nichts bis auf weiße Wände und ein kleines vergittertes Fenster, das auf ein Rasenstück hinausging. Darüber hinaus besaß der kleine Raum eine Tür mit zwei geschlossenen Luken. Ich klopfte erneut dagegen. Nichts geschah.
Ich überlegte, was wohl passieren würde, wenn ich den Sauerstoff in diesem Raum verbraucht hätte. Es würde nicht mehr lange dauern, ich spürte, wie meine Lunge mit jedem Atemzug weniger Luft bekam. Ich würde immer schwerer atmen und schließlich ersticken.
Einmal war die Strömungspumpe meines Aquariums kaputtgegangen. Ich merkte es um drei Uhr morgens, als ich gerade zur Arbeit gehen wollte. Wie immer kontrollierte ich vorher das Aquarium und maß die Werte.
Das Erste, was mir auffiel, war diese Stille. Das Wasser war vollkommen glatt, und ich vermisste das ständige Summen der Pumpe. Ich suchte das Aquarium nach Fischen ab. Sie schossen nicht zwischen den Anemonen umher und weideten nicht an der Koralle. Dann sah ich sie. Sie schwammen an der Wasseroberfläche. Mit weit aufgerissenen Mäulern.
Ich musste meine Fische retten. Was war mein Leben noch wert, wenn sie starben? Zum Glück besaß ich noch eine alte Pumpe, die ich vorläufig ins Becken hängen konnte. »Haltet
durch.« Ich weiß noch, dass ich mit ihnen redete, obwohl Fische nicht hören können, wenn überhaupt, nehmen sie Schwingungen wahr. Vielleicht sagte ich das auch eher zu mir selbst als zu den Fischen. »Haltet durch.« Ich installierte die alte Pumpe, und schon bald begann das Wasser zu strömen und die Fische wurden wieder normal.
Meinen Fischen fehlte nur selten etwas. Dafür sorgte ich.
In der Isolierzelle gab es keine Reservepumpe, keinen Fluchtweg, nichts. Geschweige denn, dass mich jemand retten würde.
»Ist da jemand?«, rief ich erneut. »Bitte, ist da jemand?
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