Blutige Asche Roman
Akte, einer Tasse Guten-Abend-Tee und einer großen Tafel Haselnussschokolade auf dem Sofa. Ich war müde, und es fiel mir schwer, die Worte aufzunehmen. Es war auffällig, wie wenig in dieser Akte stand. Sie enthielt einen Bericht der Spurensicherung, und die Polizei hatte einige Anwohner vernommen. Ray selbst hatte drei Aussagen zu Protokoll gegeben, in denen er sich immer mehr belastete. Damit hatte sich die Polizei zufriedengegeben. Doch wo blieben Rositas Freunde, Verwandte, Liebhaber und von mir aus der Briefträger?
Laut seiner ersten Aussage war Ray früher als sonst von der Arbeit nach Hause gegangen, weil ihm nicht gut war. Auf dem Heimweg hatte er Rositas und Annas Haustür einen Spalt offen stehen sehen. Er war hingegangen. Als Erstes fiel ihm ein roter Fleck auf dem cremefarbenen Teppich auf. Er stieß die Tür weiter auf und entdeckte die beiden Leichen in einer riesigen Blutlache. Das versetzte ihm einen Riesenschreck, und er setzte sich einen Moment zu den Leichen, »um zu gucken, was passiert«. Ich bekam Gänsehaut, als ich diese Worte las.
Anschließend sei er »so verwirrt« gewesen, dass er nach Hause ging. Dort hätte er seine Fische betrachtet, um sich wieder zu beruhigen. »Die Polizei habe ich nicht gerufen, weil ich gar nicht auf die Idee gekommen bin.«
In den Protokollen danach standen einige belastende Aussagen:
»Rosita und Anna wurden mit einem spitzen Gegenstand erstochen. Wahrscheinlich mit einem Fleischmesser, wie ich auch eines zu Hause habe.« Und: »Ich war wütend auf Rosita, weil sie mich abgewiesen hatte. Wenn ich wütend werde, habe ich mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich bin schon mal so wütend geworden, dass ich etwas kaputt gemacht habe.«
Ein wirkliches Geständnis fand sich nirgendwo, aber man musste nicht Jura studiert haben, um zu begreifen, worauf die Aussage hinauslief. Sie endete mit dem Satz: »Hiermit erkläre ich, dass mir nichts in den Mund gelegt wurde und ich freiwillig und ohne Ausübung von Zwang ausgesagt habe.«
Ich legte sie umgedreht auf den Stapel und fand ein Foto des Tatorts.
Vor allem das tote Mädchen machte mir zu schaffen. Ein unschuldiges Kind mit einem verzerrten Gesicht. In dem beiliegenden Bericht der Spurensicherung stand, das Kind sei nach der Mutter ermordet worden. Ihre Fußspuren waren im Blut der Mutter nachgewiesen worden. Vermutlich war sie aus dem Wohnzimmer herbeigeeilt und ebenfalls niedergestochen worden. Ich musste an Aron denken, der mit seinem Teddy friedlich in seinem Bettchen schlief.
Die Mordwaffe hatte man nicht am Tatort vorgefunden. Das Niederländische Forensikinstitut hatte festgestellt, dass es sich dabei mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Fleischmesser aus dem Starterpaket von IKEA handelte, das den wenig poetischen Namen »Början« trug, schwedisch für »Beginn«. Zwischen 1983 und 1990 waren allein in den Niederlanden etwa 130 000 solcher Pakete verkauft worden. Danach hatte man ihm ein neues Styling verpasst - das Fleischmesser besaß jetzt einen schwarzen Griff statt eines braunen.
Auch Ray hatte so ein »Början«-Paket besessen. Es sei ein Geschenk seiner Mutter gewesen, stand in dem letzten Aussageprotokoll.
Ich dachte daran, wie ich 1992 ausgezogen war. Meine Mutter fand es lächerlich, dass ich nicht bei ihr bleiben wollte, wo wir doch so nah an der Stadt wohnten. »Ich leg dir doch keine Steine in den Weg?«, hatte sie gesagt. Aber ich sehnte mich nach einem chaotischen Studentenheim, in dem man bis spät in die Nacht Lambrusco miteinander trank, um anschließend auf einer durchgelegenen Matratze auf dem Boden ins Koma zu fallen.
Als mich meine Mutter zum ersten Mal in meinem drei mal vier Meter großen Zimmer unweit der Marnixkade besuchte, sagte sie nicht viel dazu. Aber ihr abschätziger Blick sprach Bände. Mit den Worten: »Hast du keinen anständigen Stuhl, auf den man sich setzen kann?«, drückte sie mir ein großes Paket in die Hand.
Ich riss das blau gestreifte Geschenkpapier auf. Början. Der Name des Starterpakets war mir völlig entfallen, obwohl der leere Karton noch monatelang als Altpapierbehälter im Flur gestanden hatte.
»Danke, Mam.« Sie hatte mir ihre Wange hingehalten, zum Zeichen, dass ich sie küssen sollte.
Das IKEA-Service, die Töpfe und das Messerset wurden in meinem Studentenheim eifrig benutzt. Ich hatte alles in die Gemeinschaftsküche gestellt, wo wir mit dem Abwasch warteten, bis sämtliches Geschirr schmutzig war. Anschließend entfernten wir die
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