Blutige Küsse und schwarze Rosen
mal. Es geschah nachts, während eines Spazierganges. Ich stand nach einem heftigen Familienkrach an einem nahegelegenen Baggersee, um ein wenig abzuschalten und frische Luft zu schnappen … Ich war allein, zumindest dachte ich das. Vampire bewegen sich nämlich nahezu lautlos, wenn sie darauf aus sind. Plötzlich griff mich jemand von hinten an und drückte mich zu Boden. Ich hab nicht sehen können, wer es war … Dann wurde ich ohnmächtig. Bis heute weiß ich nicht, wie mein Angreifer aussah.
Als ich zu mir kam, lag ich halb im Wasser. Durchnässt, voller Matsch, und natürlich total verwirrt.“ Ein sichtbares Grauen durchlief seinen Körper. „Schließlich kamen nach und nach die Veränderungen, langsamer als bei dir. Wahrscheinlich verdrängte ich sie unbewusst, keine Ahnung. Verstehe mal einer die menschliche Psyche und ihre Macht über unseren Körper … Zunächst setzte der pausenlose Hunger ein, später die fortdauernd steigende Empfindlichkeit gegenüber allen möglichen Sinnesreizen. Aber erst als mir wie aus heiterem Himmel scharfe Zähne wuchsen, fing ich an zu begreifen, und das blanke Chaos brach in meinem Leben aus.“
Ein flaues Gefühl durchzuckte Elias bei diesen Worten und er musste jeden Gedanken an sein eigenes baldiges Essverhalten verdrängen, um sich weiterhin auf Nicos Erzählung konzentrieren zu können.
„Ich vertraute mich niemandem an“, fuhr der fort und wirkte dabei weit in der Vergangenheit gefangen. „Brachte es nicht fertig … Wie hätte ich denn anderen klarmachen sollen, dass ich ein Vampir bin, wo ich es bis dahin selbst noch nicht hatte verarbeiten können? Außerdem gab es nicht wirklich jemanden, mit dem ich hätte reden können. Na ja, immerhin stellte es sich als Vorteil heraus, dass ich nie viele soziale Kontakte gepflegt habe. Denn in meinen Augen waren von da an solche sowieso unmöglich aufrechtzuerhalten, ohne dass das Geheimnis irgendwann ans Licht kam. Und so zog ich bald nach der Verwandlung um. Hierher, wo mich keiner kannte und mögliche Veränderungen weniger auffallen würden. Dort hielt mich ohnehin nichts und niemand mehr. Nicht einmal meine sogenannte Familie.“ Nicos Blick schweifte zum Fenster, durch das der Mond seine kalten Strahlen warf. „Die Wahrscheinlichkeit einer Vampirinfektion, die tatsächlich zu einer Mutation führt, ist gar nicht so hoch. Es muss purer Zufall gewesen sein …“
Bilder der vergangenen Nacht tauchten vor Elias’ innerem Auge auf. Er sah das Szenario mit all seinen Geschehnissen noch genau vor sich – spürte die durchlebten Eindrücke. Den warmen Wind, seine eigene Gänsehaut, die Dunkelheit, die Gräber …
„Es war Vollmond“, erinnerte er sich. „Du meintest, du könntest meinen Wunsch entweder in dieser Nacht oder in einem Monat erfüllen. Also gibt es da einen Zusammenhang?“
„Der Biss eines Vampirs verwandelt nur bei Vollmond, ja“, bestätigte Nico. „Ansonsten gäbe es wohl weitaus mehr von unserer Art.
Die Mondphasen haben große Macht auf Menschen, musst du wissen. Und tief in sich wissen sie das; nur können sie diese Macht nicht einordnen. Daher erfindet die Menschheit seit jeher Gruselgeschichten über Werwölfe und andere Wesen.“
„Wieso Gruselgeschichten?“, wandte Elias ein. „Auch Vampire gelten als erfunden. Ganz offensichtlich gibt es sie – uns – aber doch.“
„Vampire sind Menschen. Nur in ihrem Inneren gehen Veränderungen vor. Das Herz und weitere Organe werden leistungsfähiger. Funktionen, die durch die Verwandlung überflüssig werden, werden eingestellt und Fähigkeiten, die bei Normalsterblichen nicht oder nicht voll entwickelt sind, werden stattdessen geweckt: unsere Sinne, Schnelligkeit, Stärke, Unsterblichkeit.
Werwölfe hingegen müssten komplett mutieren. Das ist unmöglich. In einem menschlichen Gesicht kann beispielsweise nicht einfach eine Schnauze wachsen. Die gesamte DNA müsste sich dafür ändern.“
Elias nickte, obgleich er sich wohl nie mehr darauf festlegen würde, was der Wahrheit entsprach und was lediglich Mythen entsprang. Und gerade als er sich fragte, woher Nico all dieses Wissen hatte, räusperte der sich vielsagend.
***
Als Nico eröffnet hatte, dass in der Gegend weitere Vampire ansässig waren, die er ihm vorstellen wollte, kostete es Elias große Überwindung, seinem Freund zu folgen. Er war sich nicht sicher, ob er schon für ein Treffen mit anderen seiner Art bereit war. Nico aber ermutigte ihn dazu und erklärte, dass
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