Blutige Küsse und schwarze Rosen
bemerkte, dass seine Schritte ihn ungefragt vor eine der Sitzbänke getragen hatten, die mit dicken Ketten am Drehkranz befestigt waren. Er überlegte nicht lange, ehe er sich darauf hievte. Er fühlte sich ausgelaugt. Leichte Schwächeattacken machten ihm zu schaffen.
Der Doppelsitzer war kalt und hart, aber dennoch entschied Elias, ein paar Minuten hier zu verbringen. Nur das leise, beruhigende Knarren der unzähligen im Wind schwankenden Stahlketten war zu hören. Es war eine angenehme Atmosphäre, um für einige Augenblicke abzuschalten. Bloß so lange, bis er sich dazu in der Lage fühlte, möglichst entspannt zur Kirche zu gehen und nicht alles zu vermasseln.
Beide Beine an den Körper gezogen, bettete Elias seinen Kopf auf den Knien nieder und schloss seine Augen – konzentrierte sich auf das gleichmäßige Schaukeln seines Sitzes und die laue Brise, die seinen Nacken streichelte. Er genoss das sanfte Hin und Her und das einstimmige Rascheln von Baumkronen irgendwo am Rande des Feldes. Es war ein so in sich ruhender Moment, dass Elias das Gefühl hatte, die Welt hielt nur für ihn inne, um ihn durchatmen zu lassen. Um ihm allein ein wenig Stillstand zu gönnen. Den hatte er nach den vergangenen Tagen und dessen Veränderungen mehr als nötig. Er hatte seine Menschlichkeit verloren, seine Sterblichkeit und jetzt womöglich noch seinen besten Freund. Zumindest diesen Moment der unschuldigen Stille wollte er festhalten und so tun, als sei er perfekt. Er wollte mit ihm verschmelzen, unsichtbar sein, lautlos …
Eine angenehme Schwere machte sich in seinen Armen und Beinen breit. Elias sank langsam in sich zusammen, spürte die Anspannung von sich abfallen … Da störte ein plötzliches Zischen die Friedlichkeit. Es klang wie eine brennende Wunderkerze, direkt neben ihm. Widerwillig öffnete er die Augen, merkte, dass er bereits geschlafen hatte. Blinzelnd richtete sein Blick sich auf das flammende Etwas, das keine zwei Meter vor dem Karussell in einer Flasche steckte. Es dauerte einige Atemzüge, bis Elias sich an das grelle Flackern gewöhnt hatte und erkennen konnte, dass es sich um eine der Flaschen handelte, in denen Elisabeth und Melchior das Blut abfüllten.
Wie vom Blitz getroffen, sprang er vom Sitz. Aber es war zu spät.
Unter einem Pfeiflaut, der ihm beinahe das empfindliche Trommelfell bersten ließ, schoss die Feuerwerksrakete in den schwarzen Himmel empor und ging los.
Der Knall zwang Elias in die Knie und ein bohrender Schmerz sprengte seinen Kopf. Dann breitete sich ein Schirm aus blendenden Lichtern über ihm aus. Die gleißenden Farben malträtierten Elias’ Augen und selbst durch geschlossene Lider lösten sie pure Pein in ihm aus. Er war bewegungsunfähig, starr und dankbar, als ihn ein kräftiger Schlag in den Nacken bewusstlos werden ließ.
***
Als er zu sich kam, war das Erste, was Elias spürte, der feuchte Boden unter sich. Nackte, kühle Erde, die ihm eisige Blitze bis in seinen schmerzend pochenden Nacken schickte. Seine Augenlider waren tonnenschwer. Zu schwer um sie zu öffnen … Und auch den Rest seines Körpers konnte Elias nicht bewegen. Er spürte seine Arme und Beine nicht einmal. Sie waren vollkommen taub.
Stöhnend vor Schmerzen versuchte er, die eingeschlafenen Glieder zu rühren, als ein Geräusch ihn innehalten ließ. Unweit entfernt hörte er ein Knistern.
Panisch nach Luft schnappend, riss Elias seine Augen auf und erkannte, wo er sich befand.
Bröckelnde Grabsteine erhoben sich überall um ihn herum in die sternenlose Nacht. Im Schein von unzähligen Kerzen sandten sie eine ungewohnt intensive Kälte aus, zeigten auf ihrer Oberfläche die flimmernden Lichtspiele der kleinen Flammen. Ein Meer aus Flammen. Wohin Elias auch blickte; über den gesamten Friedhofsboden waren brennende Teelichter ausgebreitet – mit seinem liegenden Körper im Zentrum. Sie gingen von ihm aus wie die Strahlen einer Sonne und schmiegten sich wie flüssige, glühende Lava dicht um Engelsstatuen, Grabmale und verwitterte Holzkreuze, bis hin zu den Mauern der Ruhestätte, jenseits welcher die nächtliche Dunkelheit herrschte.
Mit aller Kraft versuchte Elias, sich aufzurappeln. Doch er schaffte es nicht einmal, sich um wenige Zentimeter von der Stelle zu bewegen. Unnachgiebige Stricke fesselten seine Hand- und Fußgelenke an die ringsum aufragenden Gedenksteine. Sie zogen seine Gliedmaßen wie bei einer Kreuzigung nach links und rechts, schnitten in seine Haut und schnürten
Weitere Kostenlose Bücher