Blutige Rache
Hühnchen geschwelgt hatten, stand Virgil auf und reichte Tai seine Visitenkarte. »Behalten Sie die Sache mit der Zitrone im Hinterkopf«, bat er ihn. »Fragen Sie vietnamesische Freunde, ob sie was darüber wissen. Und rufen Sie mich an, wenn Sie was erfahren.«
Tai schüttelte bedächtig den Kopf. »Hm, ich glaube, das würde sich für Leute in unserer Position nicht schicken. Aber ich sage Ihnen, was Sie tun können: Nehmen Sie Kontakt mit Mr. Hao Nguyen in der vietnamesischen Botschaft in Ottawa auf, und erkundigen Sie sich bei ihm. Verraten Sie ihm allerdings um Himmels willen nicht, dass Sie seinen Namen von mir haben.«
»Wer ist das?«
»Der örtliche Vertreter des vietnamesischen Geheimdienstes«, antwortete Tai, ging zum Telefontischchen, holte eine Visitenkarte aus einer kleinen Ledermappe, notierte auf der Rückseite »Hao Nguyen« mit einem Goldfüller und reichte sie Virgil.
»Solche Leute kennen Sie?«
»So viele arbeiten nicht in der Botschaft. Man zählt zwei und zwei zusammen, beobachtet, wer was tut, und am Ende bleibt dann der Typ vom Geheimdienst übrig.«
»Ach.«
Tai dirigierte ihn in Richtung Tür. »Ist kein großes Geheimnis. Sagen Sie ihm trotzdem nicht, dass Sie mit mir geredet haben.«
Bevor Virgil die Suite verließ, warf er einen auffälligen Blick auf Tais Narben. »Spielen Sie Hockey?«, fragte er.
»Stand in der Highschool in den letzten beiden Jahren im Tor.«
»Patrick-Roy-Poster überm Bett?«
Tai schüttelte lächelnd den Kopf. »In Kanada gibt’s mehr als nur eine Großstadt, Mr. Flowers. Pat Roy war höllisch gut im Tor, aber für Montreal. Wenn ich ein Poster von ihm aufgehängt hätte, wär mir mein Bruder an die Gurgel gegangen.«
»Beweist nur, wie wenig ich über Hockey weiß«, sagte Virgil, als die Tür sich hinter ihm schloss. »Und pass auf, dass die Tür dir nicht auf den Arsch knallt«, fügte er leise hinzu.
Im Aufzug wurde ihm bewusst, dass Phem in seiner Gegenwart kaum drei Worte gesprochen hatte.
Im Truck sah Virgil sich die Vorderseite der Visitenkarte genauer an: Nguyen Van Tai, Bennu Consultants, eine Adresse an der Merchant Street in Toronto.
Eigentlich wollte er nicht, aber er tat es trotzdem.
Mai Sinclair hatte gesagt, sie gehe am Abend in ein Tanzstudio.
Virgil stellte den Wagen zwei Blocks von dem Haus entfernt ab, in dem die Sinclairs wohnten, so dass der Truck halb hinter einem Baum verborgen war. Von dort aus konnte er den Eingang gut sehen. Er holte sein Handy heraus, um die Nummer der vietnamesischen Botschaft zu erfragen.
Als sich eine Frauenstimme meldete, sagte Virgil: »Könnte ich mit Mr. Hao Nguyen reden? Ich weiß nicht, ob ich den Namen richtig ausspreche.«
»Ich sehe nach, ob Mr. Nguyen da ist.«
Wenig später eine tiefe Stimme mit starkem asiatischem Akzent: »Nguyen?«
»Mr. Nguyen, ich heiße Virgil Flowers und arbeite für das SKA in Minnesota. Man hat mir gesagt, Sie könnten mir vielleicht weiterhelfen.«
»Officer Flowers, ich bin Kulturattaché. Halten Sie mich wirklich für den richtigen Ansprechpartner?«
»Ich glaube schon. Beantworten Sie mir doch bitte folgende Frage: Steckt man in Vietnam jemandem, der hingerichtet werden soll, eine Zitrone in den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen?«
»Wie bitte?«
»Steckt man ihm eine Zitrone in den Mund?«
»Soll das ein Scherz sein?«
»Nein. Wir ermitteln hier in zwei Mordfällen; beide Opfer hatten eine Zitrone im Mund«, erklärte Virgil. »Soweit ich weiß, gehen vietnamesische Exekutionskommandos manchmal so vor, damit der Verurteilte schweigt.«
»Woher soll ich das wissen? Wer hat Ihnen geraten, mich anzurufen?«
»Nun, man hat mir gesagt, dass Sie der örtliche Vertreter des vietnamesischen Geheimdienstes sind und sich auskennen.«
»Wie bitte? Geheimdienst? Wer behauptet das?«
»Jemand, mit dem ich gesprochen habe.«
»Keine Ahnung, was Sie wollen. Ich lege jetzt auf. Auf Wiederhören.«
»Klang sehr nach einem deutlichen Ja«, sagte Virgil laut.
Virgil beschäftigte sich gerade mit dem Teleobjektiv seiner Kamera, als fünfundvierzig Minuten später Mai mit einer
Sporttasche aus dem Haus der Sinclairs trat. Er ließ sie einen Block weit gehen, bevor er den Truck auf die Lincoln lenkte. Sie entfernte sich vier Blocks bis zur Grand Avenue, wo sie in einen merkwürdigen Zwischenfall verwickelt wurde.
Zwei Skater mit nach hinten gedrehten Kappen, langen Hemden, bis zur Wade reichenden weiten Hosen und fingerlosen Handschuhen, die,
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