Blutige Seilfahrt im Warndt
noch etwas, was sie beschäftigte: Die neue Mitarbeiterin Andrea Westrich.
Sie wurde von allen Kollegen in den höchsten Tönen gelobt, was für die Abteilung nur gut sein konnte. Als Anke im Ausland im Einsatz war, nach ihrer Rückkehr eine Weile krankgeschrieben und dann zur Rehabilitierung in Mutter-Kind-Kur geschickt worden war, hatte ein Ersatz für sie kommen müssen. Und da war tatkräftige Unterstützung nur von Vorteil. Doch dadurch hatte sie niemand vermisst. Andrea war einfach zur rechten Zeit gekommen und hatte alle mit ihren Fähigkeiten überzeugt.
Seit Anke von dieser neuen Kollegin erfahren hatte, spürte sie eine bohrende Angst, dass Andrea ihr beruflich im Weg stehen könnte. In diesem Herbst standen neue Beförderungen an. Anke hoffte schon lange auf den Posten der Oberkommissarin. Doch ihre lange Fehlzeit hatte bestimmt nicht dazu beigetragen. Dafür war Andrea eingesprungen.
Ob die Neue nun die Beförderung bekam?
Mit diesen Gedanken wollte sie Andrea nicht begegnen. Ihre Begrüßung war freundlich verlaufen und so wollte sie auch die Zusammenarbeit mit ihr gestalten. Ihre persönlichen Empfindungen musste sie einfach zurückstellen. Sie trat den Rückzug in ihr Büro an, als sie ausgerechnet Andrea rufen hörte: »Ich freue mich, dass wir uns endlich kennenlernen.« Es war ihre sanfte, dunkle Stimme, die Anke dazu bewog, stehenzubleiben und sich zu der neuen Kollegin umzudrehen.
Ihre leicht schrägstehenden Augen strahlten Wärme aus. Alles an dieser Frau machte auf Anke einen angenehmen, sympathischen Eindruck. »Ich habe so viel Gutes von Ihnen gehört, dass ich ganz neugierig geworden bin.«
»Das Gleiche kann ich von Ihnen sagen«, gab Anke zu, wobei sie sich den säuerlichen Nachgeschmack nicht anmerken ließ.
»Wollen wir uns duzen?«, fragte Andrea. »Das erleichtert uns die Zusammenarbeit.«
Anke nickte. Auf Andreas Lachen musste sie plötzlich ebenfalls lachen. Erleichtert spürte sie, dass das Eis gebrochen war. Und schlagartig war ihre Laune besser. Plötzlich schämte sie sich sogar für ihre negativen Gedanken von vor wenigen Minuten.
Ein Telefon begann zu läuten. Eintönig schallte der Klingelton durch den langen Flur.
»Oh! Das ist mein Apparat«, erkannte Anke nach einer Weile. Sofort drehte sie sich um und sprintete in ihr Büro.
Die Stimmen in der Kaffeeküche wurden immer lauter. Während Kullmann genüsslich seinen heißen Lyoner mit Kartoffelsalat aß, versuchte Schnur sich weiter mit Arthur Hollinger über den Unfall vor elf Jahren zu unterhalten. Doch plötzlich murrte er: »Warum interessieren Sie sich so für diese ollen Kamellen?«
Schnur wich erschrocken zurück. Einmal schockierte ihn der unfreundliche Ton, zum anderen das Herunterspielen einer Tragödie.
»Ich glaube, dass ein tödlicher Unfall niemals zu einer ollen Kamelle werden darf«, meinte er nur.
»Ich wundere mich halt, dass Sie gerade jetzt mit Ihren Fragen hier auftauchen, nachdem ein Kamerad von uns tödlich verunglückt ist«, wurde Hollinger deutlicher. Dabei war seine Stimme laut genug, alles andere in diesem Raum zu übertönen. »Sie haben wohl nichts zu tun, weil im Saarland zu wenig gemordet wird, deshalb beißen Sie sich an uns fest.«
Kullmann vergaß zu kauen. Erschrocken schaute er auf und bemerkte, dass Schnur um eine Antwort rang. Schnell sprang er für ihn in die Bresche und sagte: »Wir sind hier, weil ich mich durch diesen neuen Unfall wieder an das damalige Unglück erinnert habe. Die beiden verschwundenen Männer sind bis heute nicht aufgetaucht. Ich dachte mir, dass es vielleicht nach so vielen Jahren neue Erkenntnisse über die Ereignisse gibt.«
Verwirrt schaute Hollinger auf den alten Mann und fragte: »Glauben Sie ernsthaft, dass man sich nach elf Jahren besser erinnert als nach elf Stunden?«
Kullmann wackelte mit dem Kopf, als wollte er abwägen, und sagte dann: »Manche Dinge ergeben erst nach einem gewissen Abstand einen Sinn. Das Unglück geschah vor elf Jahren. Da ich die Akte niemals schließen konnte, habe ich immer wieder in regelmäßigen Abständen in dieser Sache ermittelt. Warum also nicht auch heute?«
Damit brachte er Hollinger zum Schweigen.
Schnur atmete unauffällig wieder aus und begann endlich, seine Frikadelle zu essen.
Plötzlich klingelte sein Handy.
Er hob ab, musste jedoch die Kaffeeküche verlassen, um den Anrufer verstehen zu können.
Als er zurückkehrte, erklärte er: »Das war Anke. Unter Tage ist eine Leiche gefunden
Weitere Kostenlose Bücher