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Blutige Spuren

Blutige Spuren

Titel: Blutige Spuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Liemann
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erhob sich. » Worum geht’s? «
    » Ach « , sagte Sternenberg, » ich bin spontan hergekommen, heute. Das Dreihirtenhaus hat etwas Besonderes für mich. Ich wollte einmal sehen, wer und was dahintersteht. Schon der Name allein – Dreihirtenhaus – interessiert mich. «
    » Deshalb kommen Sie extra aus Berlin hierher? Sie machen keinen Urlaub? «
    » Ach, ich hatte Lust auf einen Ausflug, musste mal raus aus der Stadt. «
    » Ich kann Ihnen … « Sie stieß mit dem Schuh gegen einen Stapel Einweckgläser. Das oberste Glas rutschte nach unten und zersprang. Rote Flüssigkeit breitete sich über den Kellerboden aus. Die Frau hockte sich zu den Gläsern. Sie weinte.
    » Das stammt alles noch von Ihrer Mutter? « , fragte Sternenberg leise.
    Sie nickte und wischte sich mit dem Handrücken die Augen. » Sie hat alles eingemacht, was sie bekommen hat. «
    » Dann hatte sie einen großen Garten. «
    » Wir haben ein paar Bäume am Südhang des Goldbergs. Aber das meiste hat sie nicht von dort. Sie ist jeden Tag in die Markgrafenheide gegangen. Das ist der Wald auf dieser Seite. Meistens zwei- oder dreimal. In die Pilze, zu ihren Kräutern. Sie hat alles gesammelt und gepflückt, was es gibt. « Frau Bergbauer lächelte. » Sogar die Sachen, die unter Naturschutz stehen. Das konnten wir ihr nicht ausreden. Sie war ein richtiger Waldschrat, die Mutter. Als sie plötzlich nicht mehr hinaufkonnte in den Wald, wurde sie trübselig. Keine vier Monate später ist sie eingeschlafen. Der Wald war ihr Ein und Alles. Aber sehen Sie sich das an! Sie hat eingekocht oder zu Marmelade gemacht, was es gibt: Walderdbeeren, Holunder, Waldmeister, Pilzragout … Riesenmengen. «
    » Sie haben Gäste, denen Sie das anbieten können. «
    » Was glauben Sie, welchen Ärger ich von der Gemeinde bekomme, wenn ich Lebensmittel verkaufe, die nicht kontrolliert wurden! Hier muss jeder Topf Konfitüre pasteurisiert und vakuumverpackt sein. «
    » Hm. «
    » Was war noch mal Ihre Frage? «
    » Wann ist denn Ihre Mutter gestorben? «
    » Vor vierzehn Tagen. Ich dachte, ich weine nicht. Wir wussten es ja, und sie hatte ein langes Leben. Von Schlesien weg, wissen Sie. Viele hier im Ort kommen aus Schlesien. Nachkriegsflüchtlinge. Sie hat alles wieder von Anfang an aufbauen müssen. Die Mutter wusste viel von der Natur, das hatte sie schon als junges Mädchen mitbekommen. Das ist jetzt alles gestorben mit ihr. «
    » Und für Sie ist es ein großer Verlust. «
    » Na ja, die Mutter war schon auch eine Belastung. Wir haben uns Sorgen gemacht. Würden Sie eine Neunzigjährige allein in den Wald gehen lassen, bei Wind und Wetter, tags und nachts? Aber sie war so selig, wenn sie in ihrem Wald sein konnte. Jede Ecke hat sie gekannt, jedes Blatt. « Sie stöhnte. » Und jetzt habe ich das Eingemachte von ihr hier rumstehen. Was meinen Sie, wie lange hält das? Ich kann das doch nicht essen! Was ist denn, wenn ich das letzte Glas aufmache? Dann stirbt die Mutter doch ein zweites Mal … «
    Sternenberg half ihr mit den Scherben. » Vielleicht ist es besser, das alles mit einem Mal wegzugeben. «
    » Ja, ja « , sagte sie. » Hab’ ich auch schon gedacht. Lieber einmal Trauer in einem Abwasch als … Aber … Ich weiß nicht, ob ich die Erinnerung einfach weggeben kann. «
    » Für die Erinnerung brauchen Sie doch keine Marmelade. «
    Sie nahm eines der Gläschen mit einem handgeschriebenen Etikett. » Das ist der Geschmack meiner Kindheit, wissen Sie? Absolut kitschig. Aber so ist es. Ich hab’ Angst, meine eigene Kindheit wegzugeben. «
    Sternenberg schüttete die Scherben vom Kehrblech in einen Eimer. » Erinnerungsstücke … Ihre Mutter hat doch etwas hinterlassen: Sie! Vielleicht auch Enkel? «
    Sie lachte. » Ja, das wäre ein schöner Gedanke. Die Kinder als Erinnerungsstücke ihrer Eltern … Ich komme aus Hannover. Die Mutter hat mich nur adoptiert. «
    Sternenberg sah die Frau an, die vor ihm auf dem Kellerboden hockte. Sein Gesicht vermittelte, dass es keine Rolle spielte, ob leiblich oder adoptiert. Sie verstand das offenbar.
    » Vielleicht haben Sie recht, und die Mutter hat die Liebe gar nicht in die Gläser gesteckt « , sie lächelte belustigt, » sondern direkt in uns Kinder. Darf ich Sie zu einem Kaffee und einem Stück Kuchen einladen? «
    » Ähm – Sie könnten mir sagen, wie es zu dem Namen Dreihirtenhaus gekommen ist. Eine Geschichte? Etwas aus Schlesien? «
    » Die Mutter hat das Restaurant in Berlin von einer ihrer Schwestern

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