Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutige Stille. Thriller

Blutige Stille. Thriller

Titel: Blutige Stille. Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
Vom Netzwerk:
mich nicht zum Lachen«, sage ich und taste mir behutsam über die Seite.
    Das nachfolgende Schweigen erinnert mich an den Grund meines Kommens. »Ich wollte Ihnen allen für Ihren Einsatz danken, der weit über das normale Maß hinausgegangen ist. Es war ein schwerer Fall.« Erstaunt merke ich, wie meine Stimme fast bricht. »Sie alle haben gute Arbeit geleistet. Wir haben die Täter gefasst.«
    Pickles pult einen Zahnstocher aus dem Papier und steckt ihn sich zwischen die Zähne. »McNarie sagt, wenn es Ihnen wieder bessergeht, wartet dort eine Flasche Absolut auf Sie.«
    Ich lächele, doch bei der Erwähnung von McNaries Bar muss ich an Tomasetti denken. Er ist gestern zurück nach Columbus gefahren, seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich frage mich, wo er heute Morgen ist, was er gerade tut. Ob er an mich denkt und ich ihm genauso fehle wie er mir.
    »Sie sehen ziemlich blass aus, Chief«, sagt T.J. »Soll ich Sie nach Hause fahren?«
    »Ich mache mich gleich auf den Weg.« Ich lächele ihn an, doch es wirkt gezwungen. Sie alle sehen aus, als würden sie sich Sorgen um mich machen.
    »Bis dann, in ein paar Tagen.« Ich gehe zur Tür.
    T.J. sprintet los und hält sie mir auf. »Ruhen Sie sich ein bisschen aus, Chief.«
    »Mach ich.«
    ***
    Der
Graabhof
liegt an der Umgehungsstraße im Westen von Painters Mill. Als ich das letzte Mal bei der Beerdigung der Familie Plank hier war, hatte es geregnet, und viele Trauernde waren anwesend. Ich hatte Touristen einen Strafzettel fürs Falschparken verpasst und zum ersten Mal Aaron Plank getroffen. Mir scheint, als wäre das schon ewig her.
    Heute ist der Friedhof menschenleer. Ich parke auf dem Schotterweg und stelle den Motor ab. Ein kleiner, verkrüppelter Osagedorn steht wie ein prähistorischer Wachposten neben dem Eingangstor. Mein Arm pocht schmerzhaft, als ich die Autotür öffne und aussteige. Ich weiß, dass Vicodin und Alkohol sich nicht vertragen, nehme aber trotzdem den Flachmann aus der Jackentasche und trinke einen großen Schluck Wodka.
    Aus dem grauen Himmel nieselt es immer noch. Ich stoße das Tor auf und betrete den alten Friedhof, in dem schon öfter Vandalen gewütet haben. Doch das Tor steht weiterhin offen, und ich frage mich, ob die Amischen jemals dazulernen werden.
    Ein Dutzend Grabreihen verlaufen parallel zum Zaun. Die Grabsteine sind alle gleich groß und von der Zeit und den Naturgewalten gezeichnet. Auf einem amischen Friedhof gibt es zwischen den Toten keine Statusunterschiede. Bei den meisten ist ein einfaches Kreuz in den Stein gehauen, darunter der Name des Verstorbenen, Geburts- und Sterbedatum. Einige Amisch-Gemeinden begraben ihre Toten an der Stelle, die als Nächstes für ein Grab vorgesehen ist, ohne Rücksicht auf Familienzugehörigkeit. Doch auf diesem Friedhof ist es anders, die Toten werden bei ihren Familienmitgliedern beerdigt. Was im Falle der Planks keinen Unterschied macht, da sie alle in derselben Nacht umkamen.
    Die Gräber sind leicht zu finden, denn die aufgeworfene, vom Regen nasse Erde hat sich noch nicht gesenkt. Schmucklose weiße Steine, nichts Auffälliges. Die Amischen sterben, wie sie gelebt haben: schlicht.
    Ich gehe an den Gräbern entlang, lese alle sieben Namen. Keinen aus der Familie kannte ich persönlich, und doch habe ich das Gefühl, alle zu kennen. Es fällt mir leicht, sie mir vorzustellen: Klein Aaron mitten in der Trotzphase, wie er abwechselnd kichert und Wutanfälle kriegt; der zehnjährige David, ein übermütiger Lausejunge; Mark, der mit seinen vierzehn Jahren bereits die Verantwortung eines Mannes übernommen hatte; Annie, mit sechzehn noch voller Träume von einer Zukunft mit Mann und Kindern. An Mary denke ich zuletzt. Die Verlorene, Problematische.
Die mir am ähnlichsten war
. Diejenige, mit der ich mich während des ganzen Falls identifiziert habe, deren Tod mich tief berührt hat.
    Ich greife in meine Jackentasche und hole die gesichtslose Puppe heraus, die ich in der Nacht gefunden habe, als ich ihr Tagebuch entdeckte. Hier im Freien wird sie kaputtgehen, aber das spielt keine Rolle. Mary würde sie bestimmt gern bei sich haben. Ich gehe in die Hocke und lehne die Puppe an den Grabstein. Der Anblick ist unsäglich traurig – die gesichtslose Puppe im Regen an dem glatten Stein. Die Puppe, die nie mehr in den Arm genommen, nie mehr geliebt werden wird.
    Ich weiß, es ist dumm, aber zum ersten Mal seit vielen Jahren muss ich an das Kind denken, das ich einmal in mir getragen

Weitere Kostenlose Bücher