Blutige Stille. Thriller
der Einzige, dem dieser Fall verdammt nahegeht.«
Ich bin nicht sicher, ob er von Mary Plank im Allgemeinen spricht oder von den Misshandlungen, die sie und ihre Schwester noch vor ihrem Tod erleiden mussten. Aber eines weiß ich bestimmt: Er hat recht. Der Fall reißt eine alte, schwärende Wunde auf – und das mit einer Heftigkeit, auf die ich nicht gefasst war.
Ich seufze, kreise dann mit dem Finger zwischen meinen Augen. »Wir kommen überhaupt nicht weiter.«
»Das wird sich ändern.« Er hält inne. »Hast du Zeit, mit mir zum Tatort zu fahren?«
»Wenn wir vorher bei jemandem vorbeifahren, mit dem ich noch reden muss«, erwidere ich. »Es liegt auf dem Weg.«
»Ich fahre.«
***
Der Carriage Stop ist ein hübscher Geschenkwarenladen direkt am Verkehrskreisel. Ich gehe nicht gerne einkaufen und bin erst ein einziges Mal drin gewesen, um ein Geschenk für Glocks Frau, Lashonda, zu kaufen, die vor ein paar Monaten ein Kind bekommen hat. Der Laden ist eine Attraktion von Painters Mill, mit einem großen Sortiment an amischen Quilts, Vogelhäuschen, Briefkästen, aromatisiertem Kaffee und Duftkerzen. Er gehört Janine Fourman, die auch im Stadtrat sitzt, und wird von ihrer Schwester, Evelyn Steinkruger, gemanagt. Auch ohne meine Shoppingaversion reichen diese Fakten schon aus, um einen Bogen darum zu machen.
»Mary Plank hat hier stundenweise gearbeitet«, erkläre ich Tomasetti, als er vor dem Laden hält.
»Ich wusste nicht, dass Amische außerhalb arbeiten oder überhaupt mit Englischen verkehren dürfen.«
»Das handhaben die einzelnen Kirchenbezirke unterschiedlich und hängt davon ab, wie locker die
Ordnung
interpretiert wird.« Ich steige aus dem Tahoe.
Beim Betreten des Ladens bimmelt die Türglocke fröhlich. Der Duft von Kerzen, Eukalyptus, Kaffee und einem Potpourri aus ätherischen Ölen – Basilikum, Rosmarin und Sandelholz – umschmeichelt meine Nase. Links von mir ist die ganze Wand mit einem altmodischen Holzregal voller Kunsthandwerk aller Art zugestellt. Mein Blick fällt auf rustikale Holztafeln, die mit bunten Rosetten-Symbolen bemalt sind, die angeblich aus alten amischen Scheunen stammen. Das entlockt mir ein Lächeln, weil die Amischen niemals solche Tafeln an ihre Scheunen hängen würden. Das wissen die Touristen natürlich nicht, und Ladenbesitzer wie Janine Fourman scheren sich kaum um kulturelle Genauigkeit.
Weiter vorn sind farbenfrohe amische Quilts über Holzständer drapiert. Zu meiner Rechten führt eine uralte Wendeltreppe in den ersten Stock, wo es laut Hinweisschild eine kleine Sammlung Bücher und Dutzende handgemachte Kerzen gibt. Und mitten im Raum hinter einer antiken Kasse steht eine elegante Frau mit gestyltem grauem Haar.
»Hallo, Chief Burkholder.« Sie blickt mich über eine winzige rechteckige Lesebrille hinweg an. »Kann ich Ihnen helfen?«
Ich gehe zu ihr hin, wobei meine Stiefel ein dumpfes Geräusch auf dem Holzboden machen, und zeige ihr meine Dienstmarke. »Evelyn, das ist John Tomasetti vom Bureau of Criminal Identification and Investigation in Columbus.«
»Sie sind wegen des armen Mädchens der Planks hier.« Sie schüttelt den Kopf. »Was für eine furchtbare Sache.«
»Mary hat hier gearbeitet?«
»Ja, drei Tage die Woche von zehn bis fünfzehn Uhr. So ein hübsches Ding, und aus so einer netten Familie. Ich war bis ins Mark erschüttert, als ich hörte, was mit ihnen allen passiert ist.«
»Wie gut kannten Sie Mary?«
»Nicht gut, fürchte ich. Sie hat ungefähr fünf Monate hier gearbeitet, war aber immer sehr ruhig und zurückhaltend.«
»Wie kam es dazu, dass Sie sie eingestellt haben?«
»Mary und ihre Mutter haben öfter Quilts gebracht, die wir hier verkaufen. Wirklich wunderschöne Arbeiten. Ich hatte wohl einmal erwähnt, dass ich jemanden suche, der die Regale auffüllt. Ein paar Tage danach kamen Mary und ihre Mutter zurück und haben unser Bewerbungsformular ausgefüllt.« Sie senkt die Stimme. »Wahrscheinlich mussten sie erst ihren Bischof um Erlaubnis fragen.«
»Was können Sie uns über Mary erzählen?«, fragt Tomasetti.
»Sie war eine Gute. Bildhübsch, aber sehr ruhig. Sie schien einen immer mit ihren großen Augen zu beobachten.«
»Haben Sie in letzter Zeit irgendeine Veränderung in ihrem Verhalten bemerkt?«
»Eigentlich nicht. Nur dass ich sie immer öfter dabei ertappte, wie sie mit offenen Augen träumte.« Sie lächelt mich an, als teilten wir ein Geheimnis. »Ein paar Mal musste ich sie deshalb
Weitere Kostenlose Bücher