BLUTIGER FANG (German Edition)
und fühlte die bedrohlichen Schwellungen stärker werden. Viel Zeit würde nicht mehr bleiben, er musste bald etwas tun. Aber was? Bronco musste hier raus und zu einem Arzt gebracht werden.
Doch Joel merkte, wie ein anderer Gedanke in ihm heranwuchs und immer stärker wurde. Er war so unpassend und verrückt, dass er an sich selbst zu zweifeln begann. Denn er drehte sich um das Schicksal des Paschas, das ihm, wie er immer mehr gewahrte, nicht minder wichtig war als das von Bronco. Denn eines schien klar zu sein: Gelang es ihm, auf dem kürzesten Weg – falls es den überhaupt gab – Hilfe zu holen, dann wäre die Hilfe für Bronco zugleich der Tod für den Pascha. Und Joel merkte, dass er das nicht wollte. Es hatte schon so viel Tod gegeben in dieser Nacht und der sollte nicht noch mehr Ernte einfahren können, auch wenn es sich nur um einen Löwen handelte, der selbst den Tod zu ihnen gebracht hatte – als kalte, erbarmungslose Realität.
Joel wischte sich Schweiß von der Stirn und schüttelte über seine Gedanken den Kopf. Dann rieb er erneut und sehr vorsichtig seine geschwollenen Augen. Egal, sollten sie den Löwen doch abknallen, der hat’s nicht besser verdient! Die Einzigen, um die es jetzt gehen musste, waren Bronco und nicht zuletzt auch er selbst.
Doch die Gleichgültigkeit, die den Pascha betraf, verschwand sofort wieder.
Sie würden ihn töten statt nur zu betäuben und einzufangen, denn dafür waren die Versteckmöglichkeiten zu zahlreich. Es wäre selbst für professionelle Tierpfleger mit Risiken verbunden gewesen, den Löwen einfangen zu wollen. Und dazu kam: Professionelle Tierpfleger für Großkatzen gab es in Gehrsdorf nur einen – nämlich Tony Walters – und der lag vermutlich tot irgendwo da draußen im Löwenhaus oder im Gehege. Es musste so sein, denn wenn er noch lebte, hätten sie längst überall nach den Tieren gesucht. Deren Ausbruch war sicher noch nicht bemerkt worden. Bei dieser Architektur – Kaufhaus/Tierpark – wären sonst selbst die größten Idioten auf die Idee gekommen, auch mal auf der Hochterrasse nachzuschauen.
Ein Röcheln Broncos zog Joel aus seinen Gedanken.
Also gut, los jetzt! Aufstehen, raus, irgendetwas tun! Joel schaffte gerade den Ansatz hierzu, aber er fühlte sich schwer wie Blei.
Joel sank zurück und überließ sich seinem Gedankenfluss. Er wunderte sich weiter über sich selbst. Gerade eben hatte ihn der Löwe fast getötet, hatte ihn in diesen Schrank getrieben und hielt ihn hier eingeschlossen. Und doch hatte Joel es ganz klar im Sinn, diesen Löwen vor sich selbst zu retten. Er schüttelte erneut den Kopf. Du bist doch verrückt! Anstatt darüber nachzudenken, wie du Bronco helfen kannst, hockst du hier und sorgst dich um den Löwen!
Joel dachte an seine Katzen und daran, wie sehr ihn dieser Verlust immer noch schmerzte. Dabei war es schon eine Woche her. Doch, wie verrückt war das! Ihm musste dieser Verlust doch wie ein Klacks erscheinen gegen das, was heute Nacht hier geschehen war. Wie kam es zu diesem Missempfinden? Was war denn mit ihm los?
Sein Gedankenfluss kippte zu Vater, reihte die belanglos-naive Mutter und die Jugendszene von Gehrsdorf mit ein: Was waren ihm all diese Menschen wert? Und der Pascha: Was war der ihm wert? Jedenfalls genug, dass er nicht sterben sollte.
Wie konnte er den Pascha vor dem Erschießungstod retten? Wie konnte er ihm helfen, nicht Opfer der eigenen Wildheit, der eigenen Natur zu werden?
Eines schien klar zu sein: Er musste den Löwen aus dem Kaufhaus locken. Denn die Bullen würden überall Licht machen, sich verstecken und eine Treibjagd veranstalten. Der Pascha musste hier raus, bevor irgendjemand das Kaufhaus betrat, das war keine Frage mehr. Außerdem hatte das den weiteren, vielleicht sogar entscheidenden Vorteil, dass sie selbst besser vor ihm geschützt wären, wenn der Pascha nicht mehr im Kaufhaus sein würde.
Joel fiel ein, dass im Restaurant die Glastürfront, die auf die Terrasse führte, offen stand. Bronco hatte sie versehentlich geöffnet, als er unter Zwang Licht machen sollte im Restaurant.
Das konnte die Lösung sein! Wenn es überhaupt eine gab, die irgendwie zu realisieren war, dann die. Den Löwen etwa in die anderen Stockwerke zu drängen oder ihn über den Hauptausgang ins Freie zu locken, war relativ unwahrscheinlich und zudem gefährlich, weil man nie unbeteiligte Passanten ausschließen konnte. Und außerdem: Wie hätte er ihn in das Erdgeschoss bekommen sollen?
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