BLUTIGER FANG (German Edition)
wandte sich um und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem rechten Augenwinkel. Er schob seine Brille zurecht und folgte Tony nach, der schon dabei war, das Raubtierhaus zu verlassen.
2
Das Tiergehege im Stadtpark von Gehrsdorf, Niedersachsen, grenzte an einen Kaufhauskomplex, der in dieser Kleinstadt als das Kaufhaus am Stadtpark bekannt war. Im ersten Stock des Kaufhauses gab es ein Restaurant mit einer Hochterrasse, von der aus die Gäste in das Löwenfreigehege hinunterblicken konnten.
Joel und Tony schlenderten über einen Kiesweg, bogen nach rechts ab und kamen bald zu einer geteerten Plattform, von der aus die Besucher des Parks die Löwen auch von hier unten beobachten konnten.
„Es gibt wieder Ärger“, sagte Tony. „Die Kaufhausleitung stellt sich genauso dämlich an wie die Tierparkleitung.“
Joel war froh, dass Tony das Thema wechselte. Er verspürte keinen Drang mehr, noch länger mit ihm über seine Probleme zu reden. Er tat es zu oft und es wurde ihm schon peinlich. Wahrscheinlich war Tony insgeheim auch genervt. Also nahm Joel das Angebot zur Ablenkung gerne an. „Geht es immer noch um die Höhe der Mauer?“
„Ja, und um die Hochterrasse des Restaurants.“
„Und ich dachte schon, das Problem wird endlich angegangen. Als ich vorhin kam, habe ich gesehen, dass irgendwelches Bauzeug im Wassergraben herumliegt.“
Joel überblickte das Löwenfreigehege, in dem ein paar Baumstämme und größere Felsbrocken lagen, um so etwas wie Wildnis zu simulieren. Dann schaute er hinüber zur hinteren Begrenzungsmauer. In Gedanken kletterte er dort hinauf und kam bei der Balustrade der Hochterrasse an. Darüber erhob sich mit drei mächtigen Etagen das Kaufhaus am Stadtpark. Sogar den Eingang zum Restaurant konnte man von hier aus sehen.
Joel zeigte auf eine gelbe Planierraupe, die in dem ausgelassenen Wassergraben stand. „Was ist mit der? Erhöhen sie jetzt endlich die Mauer?“
„Tun sie nicht. Die Abwasserleitung des Grabens ist hinüber. Und das schon eine ganze Weile. Der einzige Grund, warum sie aktiv werden, ist das Wasser, das so richtig schön zu stinken anfing in letzter Zeit.“
Joel schaute zur Hochterrasse. Er malte sich aus, wie die Leute im Sommer draußen saßen und zu den Löwen hinunterschauten, während sie ihr Essen zu sich nahmen. Er konnte sich gut vorstellen, wie der Gestank verfaulenden Wassers hochzog und den Gästen den Appetit nachhaltig verdarb.
„Das ist typisch“, sagte Joel, „nur wenn es um Geld geht, werden sie aktiv.“ Er seufzte und kramte mit der rechten Hand in seiner Hosentasche. „Wie lange müssen die Löwen im Haus bleiben?“
„Oh, das kann angeblich eine oder zwei Wochen dauern, vielleicht sogar länger.“
Joel zog ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich. Ausgerechnet diese Tiere, die er für ihre Würde und ihren Stolz so bewunderte, wurden gedemütigt, indem sie ihre Existenz auf ein paar Quadratmetern fristen mussten. Er fühlte sich ihnen wieder verbunden. Er hatte zwar die Freiheit der Bewegung, aber keine körperliche Präsenz und, wie er sich nur widerwillig einräumte, auch keinen Mut. Sie hingegen hatten all das im Übermaß, dafür aber keine Freiheit. Warum konnten sie nicht frei und er so stark und mutig sein wie sie? Löwen waren zwar ohne Grund nicht gerade sehr bewegungsfreudig, doch er konnte gut nachfühlen, wie eng ihnen der Glaskasten im Besucherhaus vorkommen musste. Und jetzt sah es auch noch so aus, als ob sie für eine längere Zeit gar nicht mehr ins Freigehege hinaus konnten.
Joel blickte wieder zur Mauer. „Von hier aus sieht das verdammt niedrig aus. Klar, dass da so manchem Betrachter Bedenken kommen. Wie hoch ist die Mauer eigentlich?“
„Ziemlich genau vier Meter vom Wasserspiegel aus gerechnet. Im Moment sind es fünf.“
„Glaubst du, dass die Löwen den Sprung je machen könnten?“ Joel ging ein paar Schritte zu einem nahegelegenen Abfalleimer und warf das Taschentuch weg.
„Eigentlich nicht. Normalerweise ist ja auch Wasser im Graben und das scheuen sie wie die Pest. Doch wenn kein Wasser drin ist und sie sich irgendwo festhalten könnten, wäre das nicht unmöglich.“ Tony streckte sich. „Das eigentliche Problem liegt jedoch dort oben.“ Er zeigte mit dem rechten Arm zur Hochterrasse und gähnte.
Hinter der Tierparkmauer erhob sich in einem Abstand von ungefähr zwei Metern und über eine Höhe von zwei Metern die
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