BLUTIGER FANG (German Edition)
erinnerte sich daran, wie sehr er Bronco beschimpft hatte in jenen Minuten, als ihm die Armbrust Macht über Leben und Tod verliehen hatte. Ein Mal – ein Mal in seinem Leben hatte er Gelegenheit gehabt, ihm die Meinung zu geigen, und dann war es nichts anderes als aus Hass gegorener Wortschleim gewesen, von dem er jetzt selbst enttäuscht war. Ein wenig mehr Größe hätte er dann doch von sich erwartet.
Und schlagartig wurde ihm bewusst, dass Bronco ja noch draußen war!
Er lag schwer verletzt und ungeschützt im Lichtkegel vor dem Restaurant. Und der Pascha war auch da. Hoffentlich war Bronco klug genug, sich tot zu stellen, falls der ihn entdecken und an ihm interessiert sein sollte.
Sein Leben kam Joel plötzlich so neu, frisch und auf eine seltsame Art unverbraucht vor. Als hätte er das richtige Los gezogen, begann er wie aus heiterem Himmel, sich zu freuen. Er führte seine zitternden Hände zusammen und presste sie gegeneinander. Ja, er lebte! Er war eben einem ausgewachsenen Löwenmännchen mit über vier Zentnern Gewicht, einer Schulterhöhe von einem Meter zwanzig und der Kraft von fünfzehn Männern davongerannt und hatte hierdurch den Angriff überlebt! Unter die Tränen mischte sich ein verhaltenes Lächeln endloser Überlebensfreude.
Zitternd wischte er sich den Schweiß von der Stirn, rieb die geschwollenen Augen und überließ sich, einfach nur dasitzend, der Zeit. Er versuchte, an einen Weg zu denken, Bronco in Sicherheit zu bringen. Aber im Moment ging das nicht. Im Moment ging alles wild durcheinander. Bilder von Linda wechselten abrupt mit denen von dem Weihnachtsmann. Dann sah er Bronco mit der Löwin um sein Leben kämpfen; Frank, die Wächter, die toten Löwen, alles ging stürmisch und unkontrolliert in ihm durcheinander. Und mit den Bildern wechselten auch die Gefühle.
Allmählich ließ das Zittern nach und Joel versuchte, seine Gedanken zu ordnen und Klarheit zu erlangen.
Was müsste er jetzt tun?
Da draußen lauerte der Pascha, er würde sich also was einfallen lassen müssen.
Und was war mit Bronco? War er mittlerweile gestorben? Konnte er ihm helfen, und wenn ja, wie?
Franks Handy war kaputt, das von Bronco durch eine PIN gesperrt.
Sollte er versuchen, ins Chefbüro zu gehen, um die Polizei zu rufen? Ja, das wäre eine Möglichkeit. Doch hatte er ja den Schlüsselbund verloren, der irgendwo zwischen den Regalen liegen musste. Und da würden ihn keine zehn Pferde mehr hinbringen.
Wo war der Pascha? Saß er direkt vor der Tür und wartete wie die Katze vor dem Mauseloch? Oder hatte er sich verzogen, irgendwohin in die anderen Abteilungen?
War er ins Restaurant geschlichen? Gerade dabei, Bronco zu töten?
Joel schüttelte den Kopf.
Tränen rannen aus den Augen und er spürte, wie er am liebsten alles Nötige zugleich getan und sich dann verdrückt hätte – wobei es ihm umgekehrt noch lieber gewesen wäre.
Dass der Löwe ins Restaurant gegangen war, schien ihm unwahrscheinlich, da dort Licht brannte. Andererseits war der Pascha seit Stunden hier im Kaufhaus. Es war also gut möglich, dass er allmählich anfing, sich hier sozusagen einzurichten, dass er sich kaum mehr bedroht fühlte und sein Verhalten deswegen auch dominanter wurde. Sonst hätte er ihn eben auch nicht verfolgt, sondern wäre eher geflohen. Der Gewöhnungsprozess lief bei diesem ehemaligen Zirkuslöwen sicher schneller ab, als dies bei reinen Zootieren der Fall gewesen wäre. Und das hieß mit anderen Worten: Der Löwe konnte überall sein.
Joel ballte die Fäuste, wischte sich mit dem Handrücken Tränen weg und erstarrte. Es gab so viele Tote, darunter auch Linda.
Die Löwen hatten alle umgenietet. Und warum das alles? Warum waren sie bei ihrer Flucht aus dem Gehege nicht woanders hingerannt, wo man sie längst erwischt und eingefangen oder sogar getötet hätte?
Getötet? Bei diesem Gedanken erschrak Joel erneut.
Er war wütend auf die Löwen, die fünf Leichen und einen Verletzten zu verantworten hatten. Aber hatten sie das wirklich zu verantworten?
Trotz der Wut und des aufkeimenden Hasses, den er fühlte, wenn er an den Pascha dachte, war ihm klar, dass der Löwe nicht in einem moralischen Sinne für die Toten verantwortlich war. Man musste das Ganze sozusagen evolutionistisch betrachten: Die Löwen hatten getötet, weil es ihrer Natur entsprach, zu töten, wenn sie sich bedroht fühlten. Da ein Mensch im gleichen Lebensraum eine Bedrohung für ihn darstellte, hatte der Pascha
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