Blutiger Freitag
so gut wie möglich ignorierte. Doch es gab immer wieder etwas, das sie an die glückliche Zeit in ihrer Kindheit erinnerte, die sie für sich ,die Zeit vor dem Feuer’ nannte. Die Festtagsmusik gehörte zu den Dingen, die ihr Kraft gaben.
Maggie war zwölf gewesen, als sie ihren Vater verloren hatte, ein Feuerwehrmann, der ins brennende Haus zurückgelaufen war, um die Bewohner zu retten. Die Leute meinten, sie könne stolz auf ihn sein, ihr Vater war als Held gestorben. Als Kind hatte Maggie gedacht, dass es das Blödeste wäre, was man ihr erzählen konnte. Denn viel lieber hätte sie einen lebenden Vater gehabt als einen toten Helden.
Die Weihnachtstage nach seinem Tod waren voller übler Überraschungen gewesen. Es kam darauf an, zu welcher Tageszeit ihre Mutter beschlossen hatte, mit dem Feiern anzufangen und wen sie dazu eingeladen hatte – Jim Beam, Jose Cuervo oder Jack Daniel. Wenn das Jahr besonders erfolgreich verlaufen war, war auch schon mal ein Johnnie Walker dabei gewesen, der die anderen ersetzte.
Als Erwachsene hatte Maggie versucht, mit ihrem Mann – inzwischen Exmann – eine neue Weihnachtstradition zu zelebrieren. Doch als junger ehrgeiziger Anwalt war Greg leider mehr daran interessiert gewesen, sich auf einer dieser wichtigen Weihnachtsfeiern in der Kanzlei sehen zu lassen und mit teuren Geschenken Eindruck zu schinden. Es hatte nie diese entspannenden feierlichen Momente gegeben, in denen man den Christbaum schmückte, keine Mitternachtsmessen, auf denen diese beseelten hoffnungsvollen Botschaften verkündet wurden, keine Familienmahlzeiten, an denen sich alle am Festtagstisch versammelten. Nach einer Weile waren die Weihnachtstage zu einer Zeit geworden, die Maggie lediglich überstehen musste.
Doch ab und zu erinnerte sie etwas an die Weihnachtsfeste vor dem Feuer – eine glückliche, wundervolle Zeit, die ihr jetzt, nach zwanzig Jahren, fast schon wie ein Traum vorkam. Vorhin hatte sie geglaubt, jemanden gesehen zu haben, der wie ihr Vater aussah – unten in der überfüllten Lobby –, also dachte sie unwillkürlich wieder an ihn.
Als sie die Schlüsselkarte durch den Schlitz in ihrer Zimmertür zog, begann gerade der nächste Song: „Have Yourself a Merry Little Christmas“. Plötzlich musste Maggie daran denken, wie ihr Vater ihr das Lied vorgesungen hatte.
Sie alle drei – ihre Mutter, ihr Vater und Maggie – waren den ganzen Nachmittag durch den Schnee in der Baumschule von Wisconsin gestapft. Mit dem Vorsatz, den „magischsten Weihnachtsbaum des ganzen Geländes“ zu finden und mitzunehmen.
„Woher sollen wir wissen, ob er magisch ist?“, hatte Maggie gefragt.
Ihr Vater schüttelte nur den Kopf und erwiderte: „Wir werden es merken, wenn wir ihn sehen.“
Maggie war zu dieser Zeit elf gewesen. Zu alt, um an den Weihnachtsmann oder irgendwelchen anderen Zauber zu glauben. Als ihr Vater schließlich vor einem Baum stehen blieb und darauf zeigte, fand sie, dass er aussah wie alle anderen. Doch ihr Vater machte gern ein besonderes Ereignis aus dieser Wahl, und Maggie und ihre Mutter spielten das Spiel mit. Am selben Abend schmückten sie zusammen den Baum, tranken heiße Schokolade und sangen Weihnachtslieder.
Damals hatten sie keine Ahnung gehabt, dass es ihr letztes gemeinsames Weihnachten sein würde. Vielleicht war das allein das Magische daran gewesen.
In ihrem Zimmer blickte Maggie auf die Uhr. Sie stellte den Becher mit Eis ab. Das Eis war für die Blutergüsse, nicht für ihren Drink. Sie trank gierig die Hälfte ihrer Diät-Cola, während sie sich die verschmutzten Sachen auszog. Ihr Koffer lag geöffnet auf einem der Doppelbetten. Sie wünschte, sie hätte die Zeit, vor der Pressekonferenz noch zu duschen. Doch sie beschloss, nur schnell die Kleidung zu wechseln. Während sie nach einem sauberen T-Shirt griff, schaltete sie nebenbei den Fernseher an. Die plötzliche Stille in ihrem Zimmer war doch bedrückend. Im nächsten Moment blieb Maggie wie erstarrt stehen.
Die Szene, die sich auf dem Bildschirm abspielte, sah aus wie eine Episode aus der Realityshow „Cops“. Tatsächlich handelte es sich um die Lokalnachrichten. Eine Kamera hatte ihre Verfolgungsjagd mit dem jungen Sudanesen aufgenommen. Es war offensichtlich nicht das erste Mal, dass die Szene gezeigt wurde. Der Kommentar dazu hörte sich an, als hätten sie die Aufnahmen bereits ein paarmal wiederholt und würden nun eine Auswertung der Ereignisse vornehmen.
„Hier kommt es“, sagte die
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