Blutiger Klee: Roman (German Edition)
geblättert,
offenbar hatte er sich am Abend immer noch Notizen gemacht. Irgendwann hatte er
den Raffael Gleinegg angeschaut. »Können wir anfangen«, hatte der Chef gefragt.
Und der Gleinegg hatte genickt. Dann waren sie bis in den späten Abend hinein zusammengesessen.
Der Chef hatte gefragt und der Gleinegg hatte geantwortet. Der Chef hatte geredet
und der Gleinegg hatte genickt. Manches Mal hatte auch der Krinzinger etwas gesagt.
Und ganz langsam hatten sie die Geschichte zusammengepuzzelt. Vom alten Gleinegg
und seiner Zwillingsschwester Gisela. Vom alten Gleinegg und seiner Tochter Charlotte.
Vom alten Gleinegg und seinem Sohn Raffi. Vom alten Gleinegg und seinem Sohn Edi.
Der eine Sohn war tot, die Taucher hatten ihn erst am nächsten Tag in mehr als 20
Metern Tiefe entdeckt. Der hatte seinen Vater erstochen. Der andere Sohn hockte
jetzt droben im Schloss und war der nächste Baron. Keine wirklich schöne Geschichte.
Und jetzt kam das Wochenende, und er wollte einfach nicht mehr daran denken. Auch
deshalb war er hierher gekommen, in diese Buchhandlung, in der er sich völlig fehl
am Platz fühlte. Irgendeinen Schmöker noch, dann würde er …
»Kann ich
Ihnen helfen?«
Leo zuckte
zusammen, beinahe wären ihm die Motocrossmagazine und die arabische Revolution davongerutscht.
Die mandeläugige Brünette stand vor ihm und lächelte ihn an, sie roch ziemlich gut.
»Ich, äh,
also, ich wollte gerade …« Verdammt. »Ich wollte mir gerade einen Roman fürs Wochenende
besorgen.« Schon besser. Da hatte er gerade noch die Kurve gekriegt.
Die Brünette
wurde augenblicklich geschäftig.
»Ja, und
woran haben Sie da gedacht? Ich könnte Ihnen den neuen Auster empfehlen. Oder vielleicht
diesen Krimi von John Harris über Hedgefonds, der ist derzeit auf allen Bestsellerlisten.
Dann hätten wir noch …«
Leo sah
sich nach einem Fluchtweg um. ›Lateinamerika‹ stand auf einem Schild, das von der
Decke baumelte, der Tisch darunter war mit Buchstapeln bedeckt. Die Brünette folgte
seinem Blick.
»Interessieren
Sie sich für lateinamerikanische Literatur? Das ist unser Schwerpunktthema in diesem
Herbst!«
Leo fühlte
wieder sicheren Boden unter seinen Füßen. Lateinamerika, Rauschgiftrazzias und Drogenbosse,
warum nicht! Er nickte gnädig.
Sie ließ
den Blick über die Bücherstapel schweifen. »Allende kommt wohl eher nicht in Frage.
Restrepo auch nicht.« Sie sprach wie zu sich selbst, dann hellte sich ihre Miene
plötzlich auf. »Haben Sie schon ›Hundert Jahre Einsamkeit‹ gelesen? Von Gabriel
Garcia Marquez, dem Nobelpreisträger? Oder ›Liebe in den Zeiten der Cholera‹? Mein
absolutes Lieblingsbuch! Die beiden Romane gibt es jetzt in einer gebundenen Sonderedition!«
Sie griff nach einem Wälzer, der nach 1000 Seiten aussah, mindestens. »Ein Mann
liebt eine Frau sein ganzes Leben lang. Aber erst im hohen Alter … ach, ich will
nicht mehr verraten!«
Leo hätte
sich beinahe geschüttelt. Keine Sexszenen zwischen Greisen, bitte! Er mochte sich
ja nicht einmal Sex zwischen Menschen über 40 vorstellen! Na gut, über 45, die Zeit
verging doch ziemlich schnell. Auf jeden Fall hatte er keinen Nerv mehr, sich noch
länger beschwatzen zu lassen.
»Das nehme
ich!«
Die Brünette
strahlte ihn an. »Sie werden es nicht bereuen, ganz bestimmt!«
Er folgte
ihr zur Kassa, sie roch wirklich gut. Die Schwarte, die sie ihm empfohlen hatte,
konnte er immer noch als Hantel verwenden.
*
Henriette Gleinegg saß vor dem Spiegel
im Badezimmer, das sich an ihr Schlafzimmer im Dachgeschoss anschloss. Draußen vor
dem spitzwinkeligen Gaubenfenster war es dunkel und kalt, aber sie war von wohliger
Wärme und schmeichelndem Licht umgeben. So hatte sie es gewollt und dem Architekten
wieder und wieder in Erinnerung gerufen. Der übliche Schnickschnack war ihr herzlich
egal gewesen. Armaturen natürlich nur von Philippe Starck, gnädige Frau, und für
die Küche würde ich antike karmesinrote Kacheln aus Italien vorschlagen, als Gegengewicht
zu den spiegelnden Nirostaflächen! Sie hatte bloß mit den Schultern gezuckt. Aber
warm und hell musste die Wohnung sein, Fußbodenheizung bis in die hinterste Ecke
und kleine Spots in den Decken, die wie ein Sternenhimmel jeden Winkel ausleuchteten.
Das hatte sie diesem Schnösel eingebläut. Kälte und Düsternis hatte sie genug getankt,
sie brauchte nur an die Tage von November bis Februar damals zu Hause denken. An
das Aufstehen in der Früh in den ungeheizten
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